Umgang mit Hartz-IV-Bezieherin: „So etwas noch nicht erlebt“
Das Jobcenter Hochtaunuskreis „vergisst“, einer Hartz-IV-Bezieherin die Heizkosten zu zahlen – obwohl eine Stromsperre droht. Wie kann das sein?
Seefeldt organisiert armen Menschen im Hartz-IV-Bezug normalerweise Lebensmittelgutscheine oder Ersatz für die kaputte Wasch- oder Kaffeemaschine. Dinge, die sich diese Menschen von den dürftigen 449 Euro Hartz IV kaum leisten können. Aber ab und zu hilft er auch mit der Bürokratie, wenn er merkt, dass Leistungen vom Jobcenter falsch oder gar nicht berechnet werden.
Und diese Fehlberechnungen, die sind kein Einzelfall. In Zahlen: Im Jahr 2020, also bevor es einige pandemiebedingte Erleichterungen bei der Beantragung von Hartz IV gab, wurde gegen 2,3 Prozent aller Bescheide der Jobcenter ein Widerspruch eingelegt. Das klingt erst einmal wenig, ist aber bei der Summe der verschickten Bescheide doch immens: Es geht um rund 500.000 Fälle jährlich. Und bei mehr als einem Drittel davon wurden die Bescheide nach der Beschwerde tatsächlich geändert.
Und gerade bei der Grundsicherung sind Fehlberechnungen eine heikle Sache: Denn Hartz IV und Co. sichern nur das allerunterste finanzielle Minimum ab. Sie sind so niedrig, dass selbst das Verfassungsgericht sie als gerade noch so grundgesetzkonform einordnet. Und „die paar Euro“, die dann fehlen, können schnell existenzbedrohend werden.
Erst Freude, dann Schock
Auch Maria Sanders (Name von der Redaktion geändert) aus Friedrichsdorf im Taunus hat das zu spüren bekommen. Eigentlich ist ihre Freude groß, als sie im September 2021 endlich wieder eine Wohnung findet. Zuvor hatte die 46-Jährige eineinhalb Jahre in einem Obdachlosenwohnheim gelebt.„Endlich wieder eine eigene Wohnung“, erinnert sich die Bezieherin von Hartz IV gegenüber der taz an den Moment, als sie einzieht.
Doch nur wenige Wochen später kommt der Schock: Im November liegt im Briefkasten von Maria Sanders die Jahresendabrechnung von ihrem Stromversorger – verbunden mit einer ersten Androhung einer Stromsperre.
Das Problem von Sanders: Ihre Heizung läuft über den Strom. Und das frisst Unmengen an Geld. Es ist die teuerste aller Heizarten. Rund 65 Euro im Monat soll Sanders zunächst für die Stromheizung, den Boiler und den normalen Haushaltsstrom zahlen. Geld, das sie nicht hat. Denn von den 449 Euro Hartz IV gehen bereits 50 Euro für ein Kautionsdarlehen ab. Und ab 100 Euro Stromschulden konnten Energieversorger bis zum Jahreswechsel 2021/22 bereits eine Stromsperre verhängen.
Vor allem müsste Sanders den Heizstrom gar nicht zahlen. Denn: Heizkosten werden vom Jobcenter übernommen. Wegen der Pandemie ist die Regelung aktuell sogar noch weitreichender, das bestätigt auf Anfrage auch die Pressestelle der Bundesagentur für Arbeit. „Für laufenden Heizstrom gilt aktuell, dass Kosten der Unterkunft und Heizung ohne nähere Prüfung der Angemessenheit übernommen werden.“
Einfach nur vergessen?
Sprich: Die Heizkosten werden gezahlt, egal wie hoch sie sind. Und weil Maria Sanders Heizung über den Strom läuft und es keinen separaten Zähler für diesen Heizstrom gibt, müssen eben auch die Stromkosten für den Heizstrom übernommen werden.
Doch im Jobcenter Hochtaunus ist das offenbar nicht bekannt oder es rutscht da einfach durch. Heizkosten werden gar keine gezahlt. Und was das Jobcenter Hochtaunus nicht weiß – Frau Sanders weiß das erst recht nicht. Bis sie sich an die Stiftung OneWorryLess und Konstantin Seefeldt wendet. Als schon das erste Mal gar nichts mehr geht.
Ende Januar schreibt Seefeldt dem Jobcenter Hochtaunus. Er weist auf den Fehler hin und bittet, die Stromkosten zu übernehmen. Die alte Sperre aus dem November konnte Sanders gerade noch mithilfe der Stiftung abwenden. Aber ihr droht schon eine neue. Ihr Versorger, die OVAG, hat ihr da gerade mitgeteilt, auf was sich der Abschlag wohl voraussichtlich belaufen wird: rund 100 Euro jeden Monat. „Mir war klar, da muss das Jobcenter ran und endlich handeln“, sagt Seefeldt.
Doch vom Jobcenter kommt keine Reaktion. Über mehrere Wochen nicht. Und das, obwohl in dem ersten Schreiben an das Jobcenter schon die Stromsperre erwähnt wird. Seefeldt telefoniert immer wieder der Sachbearbeiterin hinterher, niemand geht ran. Der Infoschalter stellt ihn ins Leere durch.
Neun E-Mails, keine Antwort
Ein weiterer Brief im April, dieses Mal mit der genauen Abschlagsforderung der OVAG. Dazu kommen zwei Einschreiben, zwei Faxe, neun E-Mails – keine Antwort. Als die taz Mitte Mai eingeschaltet wird, da droht Sanders in zwei Wochen die Stromsperre – das Jobcenter hat immer noch nicht reagiert.
Doch dann Ende Mai die Wende: Ein Schreiben im Briefkasten von Sanders. Und wenige Stunden nachdem die taz-Anfrage beim Hochtaunuskreis eingeht, da meldet sich die Sachbearbeiterin sogar telefonisch bei ihr. Nach dem Telefonat ruft die Jobcentermitarbeiterin beim Energieversorger an, erklärt, dass die Behörde einen Teil der Zahlung übernimmt – insgesamt rund 400 Euro. Die Stromsperre ist damit abgewendet – nur eine Woche, bevor Sanders keinen Strom mehr gehabt hätte.
Warum das Jobcenter sich über Wochen nicht gemeldet hat bei Sanders – darauf bekommt die taz keine Antwort.
Doch: Die Geschichte ist immer noch nicht zu Ende. Denn das Jobcenter will die Zahlung der 400 Euro an den Energieversorger Maria Sanders als Darlehen in Rechnung stellen. Jeden Monat 50 Euro. Seefeldt kritisiert das: „Denn eigentlich hätte das Jobcenter ja von vornherein die gesamten Stromkosten für das Heizen bezahlen müssen. Und die 15 Euro monatlich, die sie künftig zahlen wollen für die Heizkosten, „die könnten gerade einmal einen Schrank heizen“, sagt Seefeldt.
Rechtswidrig, sagt ein Sozialrechtler
Wenn Gerichte zu Fällen bei einer Stromheizung ohne separaten Zähler urteilen, dann legen sie oft ein Verhältnis von 80 Prozent Heizung und nur 20 Prozent Haushaltsstrom zugrunde. So teuer ist Heizstrom. Andere ziehen die rund 38 Euro Pauschale für Haushaltsstrom, die in jedem Hartz-IV-Regelsatz enthalten ist, von dem Abschlag für Heizstrom ab – und überweisen den Rest. Das wären in Sanders Fall rund 60 Euro statt 15 Euro.
Der Sozialrechtsexperte Harald Thomé erklärt gegenüber der taz sogar: „Das Jobcenter ist von Amts wegen verpflichtet, die tatsächlichen Heizkosten zu ermitteln.“ Sprich: Es hätte von sich aus aktiv werden müssen, wenn es um das Thema Heizkosten geht.
Im Minimalfall, sagt Thomé, hätte das Jobcenter Sanders verpflichten müssen, ein Heizprotokoll zu führen. „Damit man dann immerhin annähernd die echten Werte ermitteln kann“, sagt der Sozialrechtler. „Eine Aufstellung einfach ins Blaue hinein ist dagegen rechtswidrig.“ Doch genau das ist bei Sanders geschehen.
Knapp heißt es aus dem Jobcenter Hochtaunus gegenüber der taz: „Solange Heizstrom und anderer Haushaltsstrom zählertechnisch nicht getrennt werden können, muss das Jobcenter die gesetzlich fixierten Abschläge in den Ansatz bringen.“ Welche gesetzlich fixierten Abschläge damit gemeint sind, bleibt offen. Denn fixierte Abschläge für Heizstrom, die gibt es eben nicht. Außerdem teilt man mit, man habe eine „andere Rechtsauffassung“.
Darlehen abstottern
Für Sanders heißt das: Sie soll nun 50 Euro Darlehen für Strom, 50 Euro für ihre Kaution jeden Monat beim Jobcenter abstottern. Dazu ihre verbleibenden rund 85 Euro für den Energieversorger. Und von den rund 250 Euro, die ihr dann noch bleiben, muss Sanders noch Warmwasser sowie Fixkosten wie Internet, Telefon und Versicherungen zahlen. Es bleibt ein kleiner Rest für alle anderen Ausgaben des täglichen Bedarfs.
„So etwas habe ich noch nicht erlebt“, sagt Konstantin Seefeldt. Wenn er sich im Namen der OneWorryLess-Stiftung einschalte, klärten sich selbst verfahrene Fälle in der Regel binnen Tagen. Er will Widerspruch einlegen und zur Not klagen. „So nimmt das Jobcenter die nächste drohende Stromsperre in Kauf.“
Auch die Hartz-IV-Kritikerin Inge Hannemann, die selbst lange in einem Jobcenter gearbeitet hat, ist verärgert: „Bei aktuellen Notlagen, wie einer Stromsperre, muss es eine erreichbare Ansprechperson geben.“ Es könne „nicht sein, dass Menschen in so einer Lage alleine gelassen werden“. Dass das Jobcenter Hochtaunus monatelang abtaucht, nennt sie „ein Unding“.
Doch seit Beginn der Pandemie sind viele Jobcenter sehr schlecht zu erreichen, kritisiert Hannemann. „Es kam ganz auf die Region an. Bei einigen lief es gut, bei anderen war die telefonische Erreichbarkeit noch schlechter als sonst.“ Und das, obwohl die Beschäftigten verpflichtet worden seien, ihre Telefone ins Homeoffice umzuleiten, sagt Hannemann.
Kein Problembewusstsein
Sie kritisiert: „Bei der Berechnung der Grundsicherung so wesentliche Fehler zu machen, das darf einfach nicht sein.“ Das Personal müsse so geschult sein, dass so etwas nicht vorkomme. Doch das eigentliche Grundproblem, das sieht sie noch woanders: „Die Grundsicherung ist so kleingerechnet, dass wenn dort nur eine Kleinigkeit zu wenig überwiesen wird, das sofort existenziell wird für Betroffene.“ Die Regelsätze seien auch ohne Fehler zu niedrig.
Aus dem Bundesarbeitsministerium heißt es, man habe keinerlei Erkenntnisse dazu, dass erhebliche Fehlkalkulationen wie bei Sanders oft vorkommen. Aber müsste man dann nicht zumindest für mehr Schulungen sorgen? Die Frage wird indirekt verneint: Ob und wie ein Jobcenter die Mitarbeitenden weiterbilde und qualifiziere, sei Sache der örtlichen Geschäftsführungen, heißt es.
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