Umfrage zur Arbeit in Psychiatrien: Am Überlastungslimit
Eine Ver.di-Umfrage unter Beschäftigten offenbart die Ausmaße von Unterbesetzung und Gewalt in psychiatrischen Kliniken.
Ver.di hatte 2.329 Psychiatrie-Mitarbeiter*innen befragt. Der Anlass für die Befragung sind neue Richtlinien zur Personalausstattung in psychiatrischen Kliniken, die der Gemeinsame Bundesausschuss in der kommenden Woche beschließen will. Der Ausschuss setzt sich zusammen aus den Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Spitzenverband der Krankenkassen.
Drei von vier Beschäftigten hatten in den vergangenen vier Wochen mindestens eine Zwangsmaßnahme miterlebt, die Hälfte sogar einmal wöchentlich. Jede*r Fünfte erlebt das praktisch in jedem Dienst. Über 60 Prozent gaben an, mehr als die Hälfte der Zwangsmaßnahmen wären mit einer besseren Personalausstattung vermeidbar gewesen.
In Hamburg sind die Zustände laut der Befragung noch schlechter als im Bundesdurchschnitt. Zwei Drittel der Hamburger Befragten berichteten von Unterbesetzung, was über dem bundesweiten Ergebnis von 52 Prozent liegt. Ein Viertel erlebt wöchentlich Zwangsmaßnahmen – doppelt so oft wie der Bundesdurchschnitt. Psychiatrie-Beschäftigte aus 168 Krankenhäusern hatten an der Umfrage teilgenommen, darunter fünf Hamburger Kliniken.
Tödliche Zwangsmaßnahme
Am Dienstag seien rund 80 Teilnehmer*innen in der Mittagspause zu einer Kundgebung am Hamburger Uniklinikum-Eppendorf (UKE) zusammengekommen, berichtet der Hamburger Ver.di-Sprecher Arnold Rekittke. „Ziel der Aktion war es, auf den aufmerksam zu machen.“
Zwangsmaßnahmen waren ein Schwerpunkt der Umfrage und sind ein brisantes Thema für das UKE. Ende April war der Psychiatriepatient William Tonou-Mbobda nach einer Zwangsmaßnahme verstorben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen drei UKE-Sicherheitsmitarbeiter und eine Ärztin. Die Ermittlungen stehen kurz vor dem Abschluss. Das geht aus einer Kleinen Anfrage der Linken hervor.
Persönliche Beziehungen
„Die Ergebnisse der Umfrage sind besorgniserregend“, sagt der gesundheitspolitische Sprecher der Hamburger Linksfraktion Deniz Celik. „Bei Personalüberlastung ist es schwer, eine persönliche Beziehung zum Patienten aufzubauen.“ Diese sei jedoch extrem wichtig, um gefährliche Situationen zu deeskalieren. Zwangsmaßnahmen müssten seltener ergriffen werden, je mehr Personal zur Verfügung stehe, so Celik.
Thomas Bock vom Verein „Irre Menschlich Hamburg“ sieht das Problem nicht nur beim Personalmangel: „Man setzt zu sehr auf stationäre Behandlung. Viele Krisen lassen sich besser zu Hause abfangen.“ Der Verein wirbt für einen sensibleren Umgang mit Patient*innen. „Es geht darum, welche Strukturen und Konzepte verfolgt werden. Das Personal zu erhöhen ist nur ein Teil der Lösung.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind