Ukrainische AKWs im Kriegsgebiet: Meiler zwischen den Fronten
UN-Atombehörde in Sorge: Noch nie gab es einen Krieg bei laufenden AKWs. Die Ostflanke von EU und Nato ist von russischen Atomlieferungen abhängig.
Gleichzeitig macht sich die UN-Atombehörde IAEA große Sorgen um die Sicherheit der Atomanlagen mitten im Kriegsgebiet: Die Situation sei „beispiellos“, sagte Generalsekretär Rafael Mariano Grossi am Mittwochnachmittag, „Zum ersten Mal findet ein militärischer Konflikt zwischen den Anlagen eines großen und etablierten Nuklearprogramms statt“, zu denen auch die Unglücksstelle am AKW Tschernobyl gehört. „Die Sicherheit der Anlagen und des nuklearen Materials dürfen auf keinen Fall gefährdet werden.“
Diese Entwicklungen zeigen, welche Gefahr von Atomanlagen im Falle eines Konflikts ausgehen kann. Und sie demonstrieren gleichzeitig, wie abhängig Europa nicht nur beim Gas und beim Öl von Russland ist – denn fünf EU-Länder und fünf Nato-Mitgliedsstaaten hängen mit ihrer Stromversorgung zu großen Teilen am russischen Tropf.
Bisher, so die Meldungen von IAEA und der deutschen „Gesellschaft für Reaktorsicherheit“ (GRS), läuft das ukrainische Stromsystem mit seinen insgesamt 15 Reaktorblöcken ohne größere Probleme weiter. Die Atomkraft liefert mehr als die Hälfte des Stroms für die Ukraine. „9 von 15 Leistungsreaktoren sind am Netz, die Stromversorgung ist stabil“, heißt es von der GRS, die traditionell enge Verbindungen zu den ukrainischen Versorgern unterhält.
Messsystem rund um AKW Tschernobyl ausgefallen
Das automatische Messsystem in der Strahlenzone rund um das AKW Tschernobyl sei ausgefallen, dort wurden seit dem Einmarsch russischer Truppen erhöhte Werte gemessen, die aber „keine unmittelbare Bedrohung für die Anwesenden“ darstelle.
Krieg in unmittelbarer Nähe von Atomanlagen kann aber große Gefahren in sich bergen, wie zwei andere Meldungen zeigen: In Kiew und bei Charkiw wurden demnach Zwischenlager für leicht und mittelschwer strahlende atomare Abfälle (etwa aus Krankenhäusern) durch Granat- oder Raketenbeschuss leicht beschädigt. Auch hier hieß es von der ukrainischen Sicherheitsbehörde SNRIU: Radioaktive Strahlung sei nicht ausgetreten.
Rund um das riesige AKW Saparoschje im Süden des Landes sind inzwischen offenbar russische Truppen vorgerückt. Doch Meldungen, das AKW sei erobert worden, wurden bislang zurückgewiesen. Eher sehe es danach aus, dass die Anlage weiterarbeite, hieß es von den Behörden. Auf Twitter gibt es Meldungen, dass sich BewohnerInnen des Ortes Energodar schützend vor das AKW gestellt haben, um es vor den russischen Truppen zu sichern.
Sorgen machen den Experten nicht nur der direkte Beschuss (eine „externe kinetische Aktivität“, wie IAEA-Chef Grossi es nennt) oder ein zufälliger Treffer durch eine verirrte Bombe oder Rakete. Problematisch sind auch die großen Zwischenlager mit abgebrannten und damit hochradioaktiven Brennstäben an den Anlagen.
Sorge um stabile Stromversorgung
Und Sorgen macht auch die Frage, ob die Stromversorgung stabil bleibt: Bricht das Stromnetz zusammen, müssten auch die Reaktoren schnell herunterfahren werden, weil sonst ihre Kühlung gefährdet wäre. Dann sollen Notstrom-Dieselaggregate einspringen, die für einige Tage Brennstoff vorrätig haben sollen.
Beunruhigt sind die Behörden aber vor allem wegen des Personals: Die AKWs laufen nur vorschriftsmäßig, wenn die Bedienungsmannschaften zu ihrer Arbeitsstelle kommen. Das kann schwierig sein. An einigen Standorten seien die MitarbeiterInnen aufgefordert worden, aus Sicherheitsgründen nicht mit eigenen Autos, sondern nur mit offiziellen Pendlerbussen zur Schicht zu kommen, hieß es.
Am „Sarkophag“, der das explodierte AKW Tschernobyl mit einer riesigen Stahlbeton-Konstruktion einschließt, arbeiten nach Angaben der GRS die Bedienungsmannschaften seit einer Woche, ohne zwischendurch nach Hause zu kommen.
Aber der Konflikt stellt nicht nur die ukrainische Stromversorgung infrage. Auch viele EU- und Nato-Staaten sind auf die Energie aus den russischen Atomen angewiesen. Finnland lässt gerade von der russischen Agentur Rosatom das Kraftwerk Hanhikivi 1 bauen – und beginnt darüber zu diskutieren, ob es diese Abhängigkeit wirklich will.
Ohne Russen gehen die Lichter aus
Vor allem aber in Osteuropa gehen ohne die Russen die Lichter aus. In der Slowakei liefern vier Reaktoren insgesamt 53 Prozent des Stroms, zwei weitere sind im Bau. Alles sind russische Anlagen und auf Brennstoff aus Russland angewiesen, wie der Sonderflug von Dienstag zeigt – denn tatsächlich ist der Import von Kernbrennstoffen von den Sanktionen der EU gegen Russland ausgenommen, wie die EU-Kommission auf Anfrage bestätigt.
In den Nachbarländern sieht es ähnlich aus: Die sechs Meiler in Dukovany und Temelin in Tschechien liefern nach IAEA-Statistiken 37 Prozent des Stroms. Dafür brauchen sie ebenfalls russischen Nachschub. In Ungarn liefern die vier Reaktoren russischer Bauart des großen Kraftwerks Paks insgesamt 48 Prozent der Elektrizität.
Zwei weitere Blöcke sind im Bau, für die der Auftrag ohne die eigentlich vorgeschriebene Ausschreibung an Rosatom vergeben wurde – was die EU-Kommission nachträglich genehmigte. Auch in Bulgarien laufen im pannengeplagten AKW Kosloduj noch zwei von ehemals sechs Reaktoren mit russischem Uran und liefern immerhin 40 Prozent des Stromverbrauchs. Und an der Südflanke der Nato baut Rosatom im türkischen Akkuyu ein AKW mit drei großen Blöcken – alles aus russischer Hand.
Rosatom dem Kreml unterstellt
Gebaut, gewartet und mit Personal versehen wurden fast alle Atomkraftwerke in den Ländern des ehemaligen Warschauer Pakts von der russischen „Föderalen Agentur für Atomernergie Russlands“ (Rosatom): Eine Behörde als Staatskonzern, direkt dem Kreml unterstellt, die deshalb über schier unbegrenzte Finanzmittel verfügt.
Rosatom ist für die militärische und zivile Nutzung der Atomkraft zuständig und bietet über ein Geflecht von Tochterfirmen die gesamte nukleare Wertschöpfungskette vom Uran-Bergbau über Bau und Betrieb der AKWs bis zum Service – und vertreibt es als „Rundum-sorglos-Paket“ vor allem in Länder des globalen Südens, sagt Hans Smital, Atomexperte von Greenpeace. „Da gilt der Grundsatz für Rosatom: Bauen, Besitzen und Betreiben“, so Smital. „Das ist erst einmal praktisch für die Länder. Aber es bringt sie auch in jahrzehntelange Abhängigkeit von der russischen Politik“.
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