Ukraine will EU-Beitrittskandidat werden: Die kalte Wahrheit
Die Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft sind ebenso streng, wie ein Beitritt der Ukraine unrealistisch ist. Brüssel sollte gegenüber Kiew keine falschen Hoffnungen schüren.
B ilder sind in Kriegen immer Waffen. Aber die Bilder von Putins Krieg in der Ukraine sind eindeutig. Die russische Militärmaschine walzt erbarmungslos ein Land nieder. Die Bevölkerung flieht in U-Bahn-Schächte. Hier die Täter, dort die Opfer.
Der Westen tut fast alles, was unterhalb einer direkten Kriegsbeteiligung möglich ist. Berlin liefert Boden-Luft-Raketen und Panzerabwehrwaffen, ohne zu wissen, ob damit ein Partisanenkrieg befördert wird, der extrem blutig werden wird. Zudem hat der Westen einen umfangreichen „Finanzkrieg“ (Adam Tooze) entfacht. Die militante Metaphorik ist der Sache angemessen. Das Vermögen der russischen Zentralbank – mehrere 100 Milliarden Dollar – im Westen einzufrieren, ist eine kalte Enteignung und zielt, wie die allerdings noch begrenzten Swift-Sanktionen, darauf, die finanziellen Lebensadern Russlands lahmzulegen und so das Regime zu erschüttern.
Niemand weiß, ob dies den wütenden Irrationalismus Putins noch mehr befördern wird. Doch wägt man die Risiken ab, so scheint beides, Waffenlieferung und Finanzkrieg, besser als nichts zu tun. Denn damit würde man Putin noch ermuntern. Soll man noch mehr tun? Präsident Selenski fleht die EU an, die Ukraine aufzunehmen. Wäre das keine großherzige Geste, um den Bedrängten beizuspringen? Ursula von der Leyen hat gesagt: „Sie sind einer von uns und wir wollen sie drin haben“.
Das klingt gut. Aber wen meint von der Leyen mit „wir“? Die EU, die strenge Aufnahmekriterien hat, wohl kaum. Die Ukraine ist weit davon entfernt, es auch nur zum Beitrittskandidaten zu bringen. Der Durchschnittsverdienst ist ein Drittel geringer als in Weißrussland. Die Bekämpfung der exorbitanten Korruption ist auch unter Selenski nicht vorangekommen, so ein Bericht des EU-Parlaments 2021. Die Oligarchen hätten noch an politischem Einfluss gewonnen, Journalisten, die über Korruption und Betrug recherchieren, seien „von Gewalt und Tod bedroht“. Das ist O-Ton EU.
Die EU ist eine funktionale Kompromissmaschine und für heroische Gesten denkbar unbrauchbar. Schon die Osterweiterung war ein Stresstest, der die inneren Bindungskräfte strapazierte. Die EU wird die Ukraine in absehbarer Zeit nicht aufnehmen, selbst wenn der Krieg morgen enden würde. Denn dies wäre ein „imperial overstretch“ – jene Ausweitung, die den Keim der Implosion schon in sich trägt. Das kann in labilen Zeiten niemand wollen.
Es stimmt: Es wirkt herzlos, den Angegriffenen diese Geste zu verwehren. Aber es ist nicht klug, mit dem Herzen zu denken. Und besser, kalt die Wahrheit zu sagen, als mit leeren Versprechungen falsche Hoffnungen zu schüren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind