Überwachung in China: Der digitale Diktator
China überwacht seine Bürger jetzt auch mit einer „Lern-App“. Genossen der Kommunistischen Partei müssen sie nutzen, sonst gibt es Strafpunkte.
Eigentlich greift Haifeng gern zu ihrem Smartphone, wie die meisten in ihrem Alter. Die 25-Jährige, die gerade an einer renommierten Pekinger Universität ihr Studium der Kommunikationswissenschaften beendet hat und nun auf Jobsuche ist, schaut sich darauf koreanische Seifenopern an, hat ein paar E-Books heruntergeladen und das eine oder andere Spiel. Am meisten nutzt die junge Frau ihr Smartphone, um mit ihren Freunden zu chatten oder ihnen Sprachnachrichten zu schicken. In den letzten Wochen ist ihr das Gerät aber lästig geworden.
Die Führung von Chinas Kommunistischer Partei (KP) hat Anfang des Jahres sämtliche ihrer Mitglieder angewiesen, eine spezielle App herunterladen. „Xue Xi Qiang Guo“ heißt diese – übersetzt: „Studiere, um China stark zu machen.“ Nach offizieller Lesart handelt es sich um eine Lern-App, eine App zur politischen Bildung quasi. „Lerne von Xi“ – so könnten die ersten beiden Silben des App-Namens auf chinesisch auch ausgesprochen werden, in Anspielung auf Chinas seit 2013 amtierenden Staats- und Parteichef Xi Jinping.
Noch wesentlich mehr als seine Vorgänger lässt Xi sich als besonders großen Staatsführer feiern. Er hat vor einem Jahr durchsetzen können, dass er bis zu seinem Lebensende Präsident bleiben darf. Vorher war die Amtszeit noch auf zehn Jahre beschränkt.
App-Leitlinien auch in der Verfassung
In der App gibt es seine Leitlinien zum Nachlesen, die inzwischen sogar Teil der Staats- und Parteiverfassung sind und jede Menge neuer Verordnungen der Partei. Aber auch alte Dokumentationen und Schwarz-Weiß-Filme wie der „Lange Marsch“, dem zentralen Heldenmythos der KP Chinas, gibt es in der App.
Xue Xi Qiang Guo war zeitweilig in China das am meisten heruntergeladene Programm und stellte selbst die unter jungen Leuten derzeit beliebte App TikTok in den Schatten, in der täglich Millionen Teenager Kurzvideos miteinander teilen. Das wundere sie nicht, sagt Haifeng. Schließlich seien sämtliche Genossinnen und Genossen verdonnert worden, die KP-App herunterzuladen. Und Chinas Kommunistische Partei zählt über 90 Millionen Mitglieder. Sie ist die mitgliederstärkste Partei der Welt.
Die App auf dem privaten Smartphone zu installieren – das ist also Pflicht. Doch damit ist es für die Genossen keineswegs getan. Für die Registrierung muss Haifeng ihren vollen Namen angeben, ebenso ihre Parteinummer und zu welcher Parteizelle sie gehört. Und: Sie muss die Partei-App auch eifrig nutzen – es zumindest suggerieren. Denn die Zeit, die sie auf der App verbringt, wird ihr in Punkten gutgeschrieben – sogenannte „Lernpunkte“ erhält der Nutzer dafür.
Wer einen Text mindestens vier Minuten lang liest, bekommt einen Pluspunkt. Schaut sich Haifeng mindestens fünf Minuten ein Video an, wird ihr dafür ein weiterer Punkt angerechnet. Ebenso wenn sie Artikel oder Videos an Freunde und Familie weiterleitet.
Auch die Uhrzeit spielt beim Punktesammeln eine Rolle. Wer morgens vor halb neun schon die App genutzt hat, erhält die doppelte Punktzahl, ebenso in der Mittagspause oder abends nach 20 Uhr. Die Nutzung der App soll schließlich nicht die Arbeitszeit beeinträchtigen. Alle paar Tage sollen die Nutzer Kommentare abgeben. Wer viele Punkte gesammelt hat, kann sie gegen Geschenke eintauschen.
Es geht um Kontrolle
Die KP-App „liest sich wie eine Nachrichten-App“, sagt Haifeng. Die seien in China eh allesamt staatlich kontrolliert. Der Fokus der KP-App liege auf noch mehr Propaganda. Immerhin würden sich viele Texte auf der App nicht so trocken und altbacken lesen, wie sie es lange Zeit von Pamphleten der KP gewohnt war, sagt Haifeng. Neben bunten Comics finden sich Quizspiele auf der App. Sie bringen ebenfalls Punkte.
Die Fragen drehen sich alle um die KP. „Was zeichnet den Sozialismus chinesischer Prägung aus?“, lautet etwa eine Frage. Oder: „Welchen Traum hat der Vorsitzende Xi?“ Und man kann gegeneinander spielen. Chinas kommunistische Führung gibt sich mit der App modern. Haifeng kann zudem einmal die Woche die Punktezahl aller Genossinnen und Genossen ihrer Parteizelle sehen. Der Durchschnittswert aller Mitglieder der Parteizelle wird wiederum mit dem anderer Parteizellen verglichen. „Eine niedrige Punktzahl zeigt, dass du kein leidenschaftliches Mitglied bist“, sagt Haifeng. „Ganz klar, es geht um Kontrolle.“
Mit dem sogenannten social scoring ist China derzeit dabei, für alle Bürger ein soziales Bewertungssystem einzuführen. Es sieht nicht nur vor, eifrig die Daten jedes Einzelnen zu sammeln, sondern die Bürger für ihr Verhalten auch zu bewerten. Verkehrsdelikte, Steuersünden, rüpelhaftes Verhalten, rauchen in öffentlichen Räumen, urinieren auf der Straße – die Liste des Bewertungskatalogs ist lang. Und da sich vieles längst online abspielt, wird auch das Verhalten, etwa beim Surfen, Online-Shoppen und selbst beim Chatten, erfasst.
Das Ziel: Musterbürger im Sinne der kommunistischen Führung zu schaffen. Wer viele Pluspunkte gesammelt hat, soll Gutscheine etwa für Bahn- und Flugreisen erhalten, günstiger an Kredite herankommen und bei der Vergabe von Kindergarten-, Schul- und Uniplätzen bevorzugt werden. Niemand soll sich diesem Bewertungssystem entziehen können. Landesweit hat die chinesische Führung bereits Millionen Überwachungskameras installieren lassen. Viele davon sind bestückt mit Gesichtserkennungssoftware.
Parteibuch entscheidet über Karriere
Erst kürzlich hat China bekanntgegeben, dass allein 2018 mehr als 20 Millionen Menschen verboten wurde, mit dem Zug oder Flugzeug zu reisen. Der Grund: Die Betroffenen hatten ein zu schlechtes Sozialpunkte-Konto. Die KP-App ist daher nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zur totalen Überwachung.
„Wir sind ja auch die Avantgarde“, sagt Haifeng und verdreht dabei die Augen. Sie sagt das ironisch. Tatsächlich aber ist es gar nicht so einfach, Mitglied von Chinas Kommunistischer Partei zu werden. 90 Millionen Mitglieder hat die KP zwar. Doch die Volksrepublik zählt fast 1,4 Milliarden Menschen. Nur einer Minderheit also gelingt es, aufgenommen zu werden. Haifeng hatte sich schon in jungen Jahren um eine Aufnahme in die KP-Jugendorganisation bemüht. Von den Noten her war sie in ihrer Heimatstadt Jahrgangsbeste. Der Rektor schlug sie der örtlichen Parteizelle vor. Mehrere Aufnahmetests folgten. Sie musste Aufsätze zu politischen Fragen verfassen und vor einem Parteigremium bestehen.
Ob sie den Lehren Marx, Mao und nun Xi folge? Sie schmunzelt. Sie halte den Sozialismus durchaus für erstrebenswert und das chinesische System für erfolgreich. Ihre Mutter habe noch Armut erlitten. Nun gehe es ihr und ihrer Familie gut. Sie könnten sich Auslandsreisen leisten, ein eigenes Auto. In der Partei sei sie vor allem aus Karrieregründen. In den Staatsdienst, bei den großen Staatsunternehmen und für viele andere prestigeträchtige Jobs habe sie nur mit Parteibuch eine Chance auf eine Anstellung.
Und wie steht sie zur sozialen Überwachung? „Es sind doch ein bisschen viele Kameras“, sagt die junge Frau und blickt sich um. Erst am Ende des Gesprächs sagt sie, dass sie gar nicht Haifeng heißt. Ihren wahren Namen möchte sie nicht nennen. Für all das, was sie erzählt habe, könnte sie schließlich sehr viele Minuspunkte erhalten.
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