Übersetzung eines Popdiskurs-Klassikers: Gepard beim Gehirnklempner

„The Sex Revolts“ ist eine bahnbrechende freudianische Studie über Pop. Das Buch wurde endlich übersetzt und wird nun auf einer Lesetour vorgestellt.

Der Sänger Iggy Pop liegt auf einer Bühne

Auf Napalm: Iggy Pop in New York, 1977 Foto: Richard E. Aaron/Redferns/getty

Pop hat sich im deutschsprachigen Raum bisher nicht auf die Couch gelegt und in die Obhut von Therapeuten begeben. Doch das Nachdenken über seine Geschichte(n) und Gegenwart, das Abgleichen mit verwandten Genres wie Literatur, Film und bildender Kunst, das kann so fruchtbar sein.

Beleg dafür ist ein Buch, das Pop freudianisch liest, in dem die Rollen von Gender anhand von Songtexten, Musikerbiografien und Sounds durchgespielt werden, inklusive aller misogyner Auswüchse, gesellschaftspolitischer und zeitgeschichtlicher Einordnungen: „The Sex Revolts. Gender, Rebellion and Rock ’n’ Roll“ von Joy Press und Simon Reynolds. Im Original 1995 veröffentlicht, wurde das Buch im angloamerikanischen Raum zum Klassiker, 2018 kam er mit neuem Vorwort und Zusatzkapitel in erweiterter Fassung erneut heraus. Nun ist das Werk endlich ins Deutsche übersetzt und erscheint demnächst beim kleinen Mainzer Ventil Verlag.

„Rebellen gibt es in allen Schattierungen“, beginnt „The Sex Revolts“ und arbeitet differenziert deren Unterschiede heraus: Als US-Rock-’n’-Roller Bo Diddley 1955 „I’m a Man“ deklamierte, hatte seine triumphale Geste auch eine rassistische Dimension, schreibt das britisch-amerikanische Autorenpaar, denn Diddley affirmierte mit dem Song seine Männlichkeit zu einer Zeit, als Schwarze von Weißen gemäß White-Supremacy-Diktion noch als „boy“ diffamiert wurden.

Britische Bands wie die Rolling Stones übernahmen in den frühen Sechzigern diese Haltung, bei ihnen gerann Diddleys Stolz zu weißer Arroganz. In Stones-Songs wie „Under my Thumb“ und „Tumbling Dice“ paart sich dominante Männlichkeit mit der Ablehnung von Monogamie. In Mick Jaggers Eintreten für freie Sexualität kommt eine frauenfeindliche Haltung zum Ausdruck.

Auch bei der erneuten Lektüre besticht „The Sex Revolts“ durch den ruhigen Ton, immer wieder wird quergelesen zur Literatur, gibt es Vergleiche zwischen Popsongs und Werken von Beatpoeten, werden ästhetische, ethische und feministische Ebenen in die Musik eingezogen. Press/Reynolds vergessen außerdem nie die Fanperspektive, die Moralkeule lassen sie hingegen im Schrank. Im Gegenteil, anschaulich legen sie dar, wie Frauen noch der Beschränktheit der übelsten Machohymnen von Guns N’ Roses etwas Subversives abgewinnen können.

Angst vor Momism

Den Ursprung der sexualisierten Rock-’n’-Roll-Rebellion situieren die beiden Autoren weit früher, im Nachkriegs­amerika, das von „Momism“ erfasst war, der Furcht vor starken Mutterfiguren, die als Kriegswitwen oder in vaterlosen Familien das Sagen hatten. Mütter prägten die in den Jahrgängen nach 1945 geborene Baby­boomergeneration demnach mindestens so stark wie die (abwesenden) Väter. Momism ging einher mit der Furcht vor dem Kommunismus und der Furcht vor einer Demokratisierung von Kultur.

Auch wenn es im „postdemokratischen“ Zeitalter heute gern unter den Tisch fällt, Pop hatte bei der Demokratisierung der westlichen Welt in den fünfziger und sechziger Jahren einen nicht eben geringen Anteil: Seine kinetische Energie floss in die Körper der Musiker ein, die Elektrifizierung der Instrumente verlieh ihren Bewegungen Sexappeal, diese Stromstöße brachten auch den Zuschauerraum zum Vibrieren.

Zu Rock ’n’ Roll wurde ungezügelt und über segregierte Grenzen hinweg getanzt, in einer Zeit, als noch das ungeschriebene Gesetz „kein Sex vor der Ehe“ galt. Eine Absage sowohl an das, was im gesellschaftlichen Mainstream als schicklich galt, aber auch an den soldatischen Gehorsam des Faschismus und anderer Kontrollregime.

Geschlechter begehren auf? Die große Sex-Revolte? Allein der Interpretationsspielraum für den Buchtitel „The Sex Revolts“ liefert Stoff für Diskussionen. Press und Reynolds haben Pop und viele seiner größten Ikonen in den frühen Neunzigern auf die Couch gelegt, zu einer Phase, in der Gender-Diskurse in den angloamerikanischen Universitäten gerade aufkamen und der Streit darüber entfachte, ob das biologische Geschlecht sozial konstruiert sei oder ob ihm etwas Essentialistisches zugrunde liege. Es gab schon damals erbitterte Gefechte in Hörsälen und Lesegruppen. Press und Reynolds kommt das Verdienst zu, feministische Fachdebatten aus der akademischen Welt in den Kontext von Pop überführt zu haben, Feminismus so darzustellen, dass Musikinteressierte weiterlesen und sich Experten nicht gelangweilt abwenden.

Bizarre Babyboomer

Iggy Pop ist ein Popstar der Baby­boomergeneration, dessen bizarre Aussagen, Texte und Einstellungen in „The Sex Revolts“ ausführlich analysiert werden. Schon im Originalvorwort legen die Autoren aber dar, dass sie ihrem Untersuchungsobjekt damit nicht den Prozess machen: Die Songs mögen sie – trotz aller dunkler Stellen. „Rebelmiso­gynies“, das erste Kapitel, untersucht vor allem die Körper männlicher Rockstars des Goldenen Zeitalters der Sechziger und Siebziger. Dieser Passage stellen sie einen Aphorismus aus Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ voran: „Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich selber her.“ „I’m a street-walking cheetah with a heart full of napalm“ singt Iggy Pop in seinem zu Zeiten des Vietnamkriegs entstandenen Schlüsselsong „Search & ­Destroy“ (1972).

Man muss ihn sich dazu barhäuptig vorstellen, der Oberkörper versehrt durch Stagediving-Sprünge und vernarbt von Scherben, in denen er sich auf der Bühne gewälzt hat, voll auf Drogen. „Iggys Libido ist erfüllt von Militarismus“, erklärt Simon Reynolds. „Er singt wie eine rasende Killermaschine, deren Herz nicht von Liebe, sondern von Napalm erfüllt ist. Es gab dieses schreckliche Foto eines mit Napalm brennenden vietnamesischen Mädchens auf einer Landstraße, das kommt mir bei seinem Song in den Sinn. Durch die selbstverherrlichenden und destruktiven Lyrics bekundet Iggy Willen zur Macht. Die Power von ‚Search & Des­troy‘ ist unbestritten, man muss sie in Zusammenhang mit den düsteren Fliehkräften sehen, die daran zerren.“

Von heute aus weitsichtig ist die Idee von Pres und Reynolds, die teils gewalttätige Inszenierung von Rockmusiker-Körpern mit Klaus Theweleits „Männerfantasien“ zu verkoppeln. In dieser Studie untersuchte der Freiburger Philosoph die Kultur und Selbstlegitimation von Freikorps, jener paramilitärischen Kampfverbände, die 1918/19 die Räterepublik mit brutaler Gewalt niederschlugen und bald darauf in den Parteiorganisationen der Nazis aufgingen.

Körperpolitik der Neuen Rechten

Im Männlichkeitsbild von Punk erkannten Press/Reynolds Übereinstimmungen zu früheren Jahrzehnten: „Wir glauben, dass die rauschhafte Erregung, die von jenen Rocksängern ausgeht, untrennbar verbunden ist mit der fehlgeleiteten Genderpolitik“, erklären sie. Heute fände sich diese Körperpolitik auf der politischen Bühne des Rechtspopulismus, schreiben sie im Vorwort zur neuen Auflage. „Es gibt einen Kult um autoritäre Führerfiguren, die explizit antifeministisch argumentieren und ständig den Wunsch nach einer Rückkehr zu traditionellen Werten äußern, klare Hierarchien einfordern und die Wiederherstellung alter Geschlechterrollen.“

Manches, was Press und Reynolds 1995 in „The Sex Revolts“ postuliert haben, klingt 2019 im Lichte von #MeToo noch dringlicher: Die seltsame Häufung toter Frauen in den Songs von Nick Cave etwa. Die Idee für das Buch entsprang einem Abendessen mit einem Noiserocker in New York, der einen geschmacklosen Witz über Kindesmissbrauch gemacht hat.

Joy Press, Simon Reynolds: „Sex Revolts. Gender, Rock und Rebellion“. A. d. Engl. von Jan-Niklas Jäger. Ventil Verlag, Mainz 2020, 560 Seiten, 30 Euro

Lesetour: 10. 11., Acud, Berlin; 11. 11., Desi, Nürnberg; 12. 11., Port 25, Mannheim; 15. 11., King Georg, Köln; wird fortgesetzt

Ja, die Neunziger waren eine Phase, in der gerade in der Subkultur ein sorgloser Umgang mit Pornografie und Gewaltdarstellungen gepflegt wurde. „Damals bestand gesteigertes Interesse an Abject-Art, an der dunklen Seite der menschlichen Psyche“, erzählt Simon Reynolds der taz. „In Fanzines, auf Albumcovern, auch bei Konzerten brach sich diese zynische Weltsicht Bahn, die Hemmschwelle für Gewaltdarstellungen wurde immer weiter herabgesetzt. Man konnte sensible Geister und bourgeoise Liberale mit Horrorbildern anstacheln.“ Psychologisch sei das nicht so weit entfernt von dem Zwang der neuen Rechten, politische Korrektheit zum Feindbild zu erklären.

„The Sex Revolts“ legt nicht nur den Finger in die Wunden. Es hat auch Kapitel über die weibliche Seite von Ambient­musik, über Selbstermächtigung von Musikerinnen der Punkszene und es porträtiert die Inszenierungsstrategien der Riot Grrrls, die 1995 gerade erst anfingen. Es ist ein packend geschildertes und kurzweilig zu lesendes Buch über Pop.

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