Übers kreative Schreiben: Die Angst vor dem Ich
Seit 40 Jahren verdient unsere Autorin ihr Geld mit Schreiben. Zum Jubiläum: unfertige Gedanken über Scham, Hermetik und eine veränderte Öffentlichkeit.
I rgendwann in diesem Jahr hatte ich ein kleines persönliches Jubiläum: 40 Jahren Schreiben, öffentlich und für Geld. Hui, das ist eine verdammt lange Zeit, dachte ich und fing an – ja was wohl? – ein paar Gedanken zu notieren. Was hat sich verändert, mit dem Schreiben und den Schreibenden? Die Notate blieben liegen, willentlich vergessen, denn sie gaben nichts präsentabel Eindeutiges, gar Kämpferisches her, nichts, das irgendjemandes Erwartung hätte erfüllen können.
Aber vielleicht ist dieses Zaudern und der Wunsch, mich selbst zu schützen vor dem Äußern von angreifbar Mehrdeutigem ein erster, indirekter Hinweis auf das, was sich gewandelt hat, im Verhältnis von Ego, Sprache und Öffentlichkeit. Es sei hier forsch alles ignoriert, was analytisch Medienbibliotheken füllt, Digitalisierung, Globalisierung, und allein ein unscheinbarer, schrumpeliger Kern herausgelöst: das Individuum, mit dem Stift in der Hand der Welt gegenübertretend.
Was also hat sich geändert? Beginnen wir mit Peripherem. Besagte Welt gleich nach der Journalistenschule mit einem Buch zu beglücken, wäre als lächerlich empfunden worden. Es gab eine stillschweigende Anerkenntnis, dass es einer Zeit des Lernens und Wachsens bedurfte, um sich an Themen zunehmender Komplexität heranzutrauen. Natürlich war dieses Adoleszenz-Modell auch Ausdruck von Hierarchien, gegen die sich bestens rebellieren ließ. Aber da war noch etwas anderes:
Wir Jüngeren betrachteten uns als Werdende, nicht als Seiende; niemand verstand sich als Marke. Gewiss gab es Eitelkeit: „sich einen Namen machen“! Doch selbst bei berühmten Namen blieb der Mensch dahinter eher unbekannt, hatte manchmal über Jahre für ein größeres Publikum nicht einmal ein fotografisches Gesicht. Der Hinweis, solche Ikonen seien meistens Männer und immer weiß gewesen, liegt auf der Hand.
Scheinheiligkeit unter Journalist:innen
Aber lag der Unwille, sich mit Persönlichem zu exhibitionieren, wirklich nur daran, dass in einer arg homogenen Zunft selbst die nackten Körper alle ähnlich gewesen wären? Ja und nein. Die heutige Tendenz, sich mit Facetten eigener Identität frühzeitig als interessantes Unikat zu stilisieren, stimmt mich froh, wenn ich sie als Ausdruck errungener Diversität betrachtete – und nicht als Folge prekärer Verhältnisse, in denen das eigene Verschiedensein zu Markte getragen werden muss, um voranzukommen.
hat sich als Reporterin vor allem mit muslimischen Gesellschaften befasst. Letztes Buch: „Der lange Abschied von der weißen Dominanz“.
Aktivismus? Galt mit Journalismus als unvereinbar, dabei hatten zahllose Kolleg:innen eine politische Agenda, und die Lagerbildung entlang Parteibuch war legendär. Aus dem Mikrokosmos der einstigen Hauptstadt Bonn erinnere ich lebhaft das Phänomen der gespaltenen Persönlichkeiten: Sie schrieben anders, als sie dachten, und redeten anders, als sie schrieben. Auf Pressekonferenzen auftreten wie der Rächer der Enterbten und dann im Gedruckten nicht wiederzuerkennen.
Scheinheiligkeit war verbreitet, weil sich Parteinahme ebenso wie Gefälligkeit gegenüber Machtinteressen hermetischer als heute hinter einer Fassade sogenannter Objektivität verbergen konnten.Die Ich-Form war verpönt und ich selbst eine leidenschaftliche Verfechterin dieser Doktrin. Als meine Wochenzeitung in den 90er Jahren verlangte, ich solle mich an einer Kolumne beteiligen, die in der ersten Person zu schreiben sei, wälzte ich mich nachts in durchgeschwitzten Laken.
Als hätte ich am nächsten Morgen nackt auf die Straße treten müssen. Dem Nachwuchs verlangte ich als Schreib-Dozentin über Jahre ab, sich bei Dramaturgie-Problemen nicht mit einem billigen „… und dann stieg ich in den Bus und fuhr nach X.“ herauszuplappern, sondern gefälligst die kühlen Höhen Ich-loser Professionalität zu erklimmen.
Bloss keine Ich-Form
Am eigenen szenischen Texten schraubte ich so lange herum, bis das subjektiv Gesehene ohne das sehende Subjekt verwacklungsfrei auf dem Blatt stand – das Ideal einer freihändigen Wahrhaftigkeit. Times gone by, auch bei mir. Aber dies alles ist ja keineswegs allein eine Frage von Stil und Handwerk, sondern des Verhältnisses von Individuellem und Öffentlichem. Darf ich, will ich, muss ich mich als Person ausstellen, erkennbar, unverwechselbar machen?
Kürzlich lernte ich den Begriff „Absendereindeutigkeit“, das ist Buchbranchen-Jargon. Warum ebendiese Autorin ebendieses Buch verfasst hat, das muss der Kundschaft, dem Markt auf ersten Blick zweifelsfrei klar sein, es muss passen, hautfarben- und haargenau, eine ins Auge springende Evidenz, bloß nicht Nachdenken-Müssen dabei. Und welche Fallhöhe entsteht, wenn beim Publikum bestimmte Identitätsmerkmale die Aussagen einer Person erst attraktiv machen!
Wie gegenwärtig auf großer Schlammbühne einem jüdischen Publizisten seine Selbstbezeichnung abgesprochen wird, ist ein Lehrstück des Schreckens. Was das Ich betrifft, fahre ich längst im Zug der Zeit. Ich habe begriffen: Es gibt ein veräußerlichtes Ich, das in der Öffentlichkeit herumspazieren kann, ohne nächtliche Schamangst zu verursachen. Manches ist so intim, sagte Virginia Woolf, dass man es nur gedruckt äußern kann.
Mein lebensherbstliches Beobachter-Ich hat sich von früheren Ängsten befreit, doch ist an deren Stelle ein andersgeartetes Zaudern getreten. Mein Reden und Schreiben über weiße Weltsichten und angemaßte Neutralitätskonstrukte hat mich zwischen Baum und Borke platziert und für jedweden vorbeiflanierenden Zweifel empfänglich gemacht.
Die einstige Selbstgewissheit, Kenntnisse und kritischer Verstand seien fürs öffentliche Wort eine hinreichende Legitimation, ist Vorsicht gewichen. Wofür bin ich kompetent, wo sprechfähig? Zu keiner (so empfundenen) Kohorte zu gehören, erscheint mir heute schwieriger als früher. Vielleicht bündelt sich in diesen Zweifeln im Guten wie im Schlechten, was sich verändert hat.
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