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Übergriffig gegen Lieferando-RiderSchwach, schwächer, am schwächsten

Lilly Schröder
Kommentar von Lilly Schröder

Lieferando-Fah­re­r*in­nen werden ausgebeutet. Doch die Übergriffe gegen sie kommen von Kun­d*in­nen und Restaurantangestellten.

Lieferando Fahrer Foto: Jochen Tack/imago

M änner empfangen sie nackt an der Tür oder lassen ihr Handtuch im letzten Moment fallen. Sie werden unangemessen nach Dates gefragt und verbal sexuell belästigt – sei es auf der Straße, im Restaurant oder in Privatwohnungen. Davon berichten Berliner Lie­fe­rando-Kurier*innen.

Die sexuelle Belästigung bei Ridern ist kein hauptstadtspezifisches Pro­blem. Von Bremen über Karlsruhe bis nach Köln berichten Ku­rie­r*in­nen der taz von Vorfällen. „Ich habe noch nie eine Frau bei Lieferando getroffen, die nicht belästigt wurde“, erzählt Anne Gardiner (Name von der Redaktion geändert), eine Kurierin aus Bremen, die sich bei der Interessenvertretung Lieferando Workers Collective engagiert. Die Verantwortung sieht sie bei Lieferando: „Wenn die Firma die Rechte der Mit­ar­bei­te­r*in­nen nicht schützt, dann tun andere es auch nicht.“

Der orangefarbene Lieferdienst steht seit Langem wegen niedriger Löhne, Verletzung von Ar­bei­te­r*in­nen­rech­ten, Gewerkschaftsfeindlichkeit und einer „Hire & Fire“-Unternehmensführung in der Kritik. Die meist migrantischen Ku­rie­r*in­nen sind dem schutzlos ausgeliefert. „Die meisten von uns sprechen kein Deutsch und wissen nicht was ihre Rechte sind“, berichtet Anne. „Außerdem wollen sie kein Stress riskieren, aus Sorge ihr Visum zu verlieren.“ Lieferando profitiere von dieser Tatsache.

Die Ausbeutung der wehrlosen Kuriere ist integraler Bestandteil des Geschäftsmodells. Der systematisch Machtmissbrauch durchzieht das gesamte Unternehmen, das wie eine undurchsichtige Black Box agiert. In den meisten Städten, den sogenannten Remote-Städten“ gibt es keine An­sprech­part­ne­r*in­nen, sondern nur eine Mail-Adresse, an die sich die Ku­rie­r*in­nen wenden können. In den sogenannten Hub-Städten wie Berlin und Hamburg hingegen gibt es wenigstens in der Theo­rie Ansprechpartner*innen.

Perfides Katz- und Maus-Spiel

In der Praxis entpuppt sich diese „Unterstützung“ jedoch als ein perfides Katz-und-Maus-Spiel, um Ku­rie­r*in­nen ihre Rechte vorzuenthalten. So ist etwa das Büro des Betriebsrats am Berliner Ostkreuz nicht einmal ausgeschildert, bis vor Kurzem gab es keinen Briefkasten. Daher ist der Betriebsrat für die Rider kaum zu finden.

Dabei ist es angesichts der auf Entrechtung basierenden Unternehmensstruktur essenziell, dass es mittlerweile vereinzelt Betriebsräte sowie eine Interessenvertretung gibt. Ihre Forderungen – Verifikationsmechanismen, um Kun­d*in­nen bei Fehlverhalten zu blockieren, die Möglichkeit, Fahrten bei Sicherheitsbedenken abzubrechen, sowie die Etablierung einer sensibleren Firmenkultur – sind richtig und wichtig.

Allerdings gehen die Übergriffe gegen Rider nicht von der Firma aus, sondern von Re­stau­rant­mit­ar­bei­te­r*in­nen, Kun­d*in­nen und Ver­kehrs­teil­neh­me­r*in­nen, die offenbar eine Genugtuung in der Erniedrigung wehrloser Menschen finden. Diese Übergriffe offenbaren die Abgründe einer Gesellschaft, die solche Praktiken nicht nur ungestraft duldet, sondern möglich macht.

Es steht außer Frage, dass Lieferando ein unmoralisches Unternehmen ist, das die Graubereiche im Arbeitsrecht ausreizt wie Cum-Ex-Banker das Steuerrecht. Aber ihr Machtmissbrauchssystem kann die Firma nur aufrechterhalten, weil es von außen gestützt wird.

Es braucht daher nicht nur schärfere Regelungen innerhalb des Unternehmens, um Ku­rie­r*in­nen besser zu schützen. Es bedarf einer Entpatriarchalisierung, eines gesellschaftlicher Wandels, sodass migrantische Menschen, die sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen befinden, nicht zur Zielscheibe der Erniedrigung werden. Ein Mindestmaß an Menschlichkeit ist gefragt.

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Lilly Schröder
Redakteurin für Feminismus & Gesellschaft im Berlin-Ressort Schreibt über intersektionalen Feminismus, Popkultur und gesellschaftliche Themen in Berlin. Studium der Soziologie und Politik.
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11 Kommentare

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  • Ich habe leider nicht verstanden, was es mit Patriarchat zu tun hat, wenn der biodeutsche Kunde den südasiatischen Liferandokurier nackt empfängt und ihn unangemessen nach einem Date fragt.

    • @rero:

      Es musste irgendwie in diese Ecke gedrückt werden - es geht aber um den Hauptkonflikt: Reich gegen Arm, Mächtig gegen Schwach.



      Dagegen helfen Solidarität, mehr Rechte für Gewerkschaften, eine Philosophie gleicher Rechte und Pflichten und eine fairere Verteilung von Reichtum.

  • Selber kochen oder selber abholen wäre der aktive Beitrag an dieser Stelle anstelle mit der eigenen Faulheit prekäre und unqualifizierte Arbeit zu fördern.

  • Schon mal darüber nachgedacht, dass man diese Lieferdienste (Lieferando, Burger King, pizzablitz etc) schlichtweg nicht braucht? Sie kreieren nur schlecht bezahlte prekäre Arbeit, weil wir zu faul und zu reich sind, um selber einzukaufen oder zu kochen oder unser Essen selbst abzuholen. Das eigene Verhalten reflektieren hilft immer im Leben! Klare Ausnahme sind natürlich Instiu wie Z.B. „Essen auf Rädern“ für alte Menschen, die eine ganz andere Zielsetzung haben .

  • Da hat der kleine unzufriedene Deutsche seine täglichen Prügelknaben, an denen er all seinen Frust und seinen Rassismus ablassen kann. Konservative, Rechte und Neoliberale vergiften unser Zusammenleben. Eine offene, freie Gesellschaft ist so fern wie schon lange nicht mehr. Ätzend!

    • @Andreas J:

      Oh, das sind nicht unbedingt kleine unzufriedene Deutsche wie Konservative, Rechte und Neoliberale. Konservative, Rechte und Neoliberale kochen vermutlich nicht selten selbst, zumindest auf die ersten beiden pauschal benannten Gruppen sollte das zutreffen.

      Doch haben Sie schon mal im Prenzlauer Berg ein Buch ausgeliefert? Und auch die Bio-Kisten-Fahrer schwärmen von dem hippen, aufgeschlossenen Stadtbezirk. Warum wohl? Weil der freundliche 20jährige im vierten Stock Ihnen auch nicht einen Treppenabsatz entgegenkommt. Warum auch - er hat ja dafür bezahlt und fragt Sie höchstens, ob es nicht a) schneller und b) billiger geht.

      • @Niemals:

        Da gebe ich Ihnen völlig Recht und das gilt für fast alle hippen Stadtbezirke von München bis Hamburg.



        In Hamburg ist es die aufgeschlossene Schicht der Lastenradgeschwader aus Eimsbüttel plus Anhang.

      • @Niemals:

        Zufriedene Menschen sind umgänglicher. Was sie über ihre hippen Prenzlauer sagen sind erstmal nur Behauptungen ihrerseits. Rassismus ist in allen Bevölkerungsgruppen vertreten. Konservative, Rechte und Neoliberale legen aber einen besonderen Eifer an den Tag was rassistische Hetze angeht.

  • Erst mal ist es kapitalistische Ausbeutung von Menschen mit weniger Schutz. Das muss man gar nicht ablenkend mit Nebenkonflikten irgendwie aufladen, es sind vor allem ärmere männliche Menschen, die wenig andere Wahl haben (oder im Idealfall nur sportsüchtig).



    Die bewusste Schwächung von Gewerkschaften kann auch zurückgedreht werden. Auch dafür sind zumindest SPD, Linke, Grüne gewählt worden. Diese dürfen gerne auch mal solche Punkte durchbekommen. Nicht nur die FDP mit spukigen Kapitaldienereien.

    • @Janix:

      Dafür sind SPD, Linke und Grüne vielleicht gewählt worden, aber daran haben sie kein Interesse, da sie sich auch primär als Interessenverteter des Kapitals verstehen, von der SPD gerne mit dem Arbeitplatzargument und von den Grünen mit dem Wachstumsargument kaschiert.

      • @Ressourci:

        Wenigstens die Linken können Sie da jedoch schon ausnehmen. Die werden nicht ohne Grund von gewissen Medien unter die 5% gemobbt.



        Und auch bei SPD und Grünen besteht noch Hoffnung.