Überdrehte Debatte um Merkel: Wer den Druck spürt
Weil Merkel mehrmals zitterte, wird heftig über ihren Gesundheitszustand spekuliert. Dabei hat sie den doch klar benannt. Etwas Empathie, bitte!
D ie Kanzlerin zittert, und alle drehen durch. Nein, das ist kein Titel einer Punkband, sondern die Kurzfassung der Ereignisse aus den letzten Wochen. Nachdem Angela Merkel am Mittwoch beim Empfang des finnischen Ministerpräsidenten Antti Rinne den dritten öffentlichen Zitteranfall innerhalb von gut drei Wochen hatte, werden die Spekulationen über ihren Gesundheitszustand immer wilder – bis hin zu einer Lippenleserin, die entziffert haben will, was Merkel währenddessen vor sich hinmurmelte.
Zum ersten Mal war das Zittern Mitte Juli aufgetreten, beim Empfang des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Ein heißer Tag, an dem Merkel später erklärte, dass sie zu wenig Wasser getrunken habe. Neun Tage später, bei der Ernennung der neuen Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue, hatte sie einen weiteren Zitteranfall. Und nun, am Mittwoch, den dritten. Laut Welt fragen sich nun in ganz Deutschland die Menschen, wie krank die Kanzlerin ist.
Das beantwortete sie bei einer öffentlichen Pressekonferenz selbst: „Mir geht es gut. Ich hab neulich schon einmal gesagt, dass ich in einer Verarbeitungsphase der letzten militärischen Ehren mit dem Präsidenten Selenski bin. Die ist offensichtlich noch nicht ganz abgeschlossen, aber es gibt Fortschritte und ich muss damit jetzt eine Weile leben. Aber mir geht es sehr gut und man muss sich keine Sorgen machen.“
Angela Merkel war ja schon immer gut darin, etwas zu sagen und dabei nichts zu sagen, aber hier ist sie doch recht deutlich: Sie hat den ersten Zitteranfall noch nicht verarbeitet. Da gibt es eigentlich nicht viel Raum für Spekulationen, selbst der Duden erklärt das Verb „verarbeiten“ damit, etwas geistig oder psychisch zu bewältigen. Kennt doch auch jeder: Wenn einem etwas Unangenehmes in einer bestimmten Situation passiert, man also zum Beispiel einen Vortrag hält und ein Blackout bekommt, dann lässt der nächste Vortrag die Erinnerung daran wieder aufleben, entweder bereits im Vorfeld oder währenddessen. Und genau das, was man unbedingt vermeiden möchte, passiert erneut. Jetzt stellen Sie sich mal vor, Sie sind zudem noch die Bundeskanzlerin und ständig unter Beobachtung. Na, spüren Sie schon den Druck?
Nun kann man natürlich argumentieren (wie es auch viele tun), dass ein Staatsoberhaupt mit diesem Druck umgehen muss, vor allem als Frau. Bloß keine Schwäche zeigen!
Dazu zwei Dinge. Erstens: Sie hält dem Druck doch stand. Schließlich hätte Merkel sich nach dem ersten Mal auch krankschreiben lassen können und weitere, ähnliche Situationen vermeiden. Stattdessen stellt sie sich ihren Pflichten und zieht eisern durch, was zu tun ist.
Zweitens: Wer so argumentiert, hat nicht verstanden, dass das Zugeben einer Schwäche eine Stärke ist. Immer. Jeder Mensch hat Schwächen, aber unsouverän ist nur, wer versucht, sie zu vertuschen.
Und nur, um das nochmal klarzustellen: Ein Zittern allein ist noch keine Schwäche, sondern erstmal nur eine Körperreaktion. Genauso wie Schwitzen. Menschen schwitzen, Menschen zittern, Menschen sind keine Roboter. Auch Kanzlerinnen nicht. Angela Merkel ist also, Überraschung!, auch nur ein Mensch. Warum ist das so schwer zu akzeptieren? Und warum würden die meisten Menschen am liebsten Merkels Krankenakte sehen, um sich selbst von der „Wahrheit“ zu überzeugen? Wann würden die Leute denn Ruhe geben – wenn sie sagt: Ich hatte eine Panikattacke? Wohl nicht.
„Ich muss damit jetzt eine Weile leben“, sagte Merkel bei der Pressekonferenz. Das zu formulieren, ist schlau: So greift sie nicht nur künftigen Spekulationen voraus, sondern minimiert auch den Druck, beim nächsten Mal wieder perfekt zu performen. Und was viele als Eingeständnis eines Problems auffassen, zeigt deutlich, dass sie bestens in der Lage ist, Situationen einzuschätzen – oder einzuschätzen lassen.
So eine Sache verschwindet eben nicht über Nacht, das braucht Zeit. Aber vorerst tut es auch erstmal ein Stuhl. Den Empfang der neuen dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen am Donnerstagnachmittag vor dem Kanzleramt in Berlin verfolgte Merkel sitzend – genau wie Frederiksen.
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