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Überdrehte Debatte um MerkelWer den Druck spürt

Kommentar von Franziska Seyboldt

Weil Merkel mehrmals zitterte, wird heftig über ihren Gesundheitszustand spekuliert. Dabei hat sie den doch klar benannt. Etwas Empathie, bitte!

Alle mal hinsetzen und durchatmen, bitte Foto: dpa

D ie Kanzlerin zittert, und alle drehen durch. Nein, das ist kein Titel einer Punkband, sondern die Kurzfassung der Ereignisse aus den letzten Wochen. Nachdem Angela Merkel am Mittwoch beim Empfang des finnischen Ministerpräsidenten Antti Rinne den dritten öffentlichen Zitteranfall innerhalb von gut drei Wochen hatte, werden die Spekulationen über ihren Gesundheitszustand immer wilder – bis hin zu einer Lippenleserin, die entziffert haben will, was Merkel währenddessen vor sich hinmurmelte.

Zum ersten Mal war das Zittern Mitte Juli aufgetreten, beim Empfang des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Ein heißer Tag, an dem Merkel später erklärte, dass sie zu wenig Wasser getrunken habe. Neun Tage später, bei der Ernennung der neuen Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue, hatte sie einen weiteren Zitteranfall. Und nun, am Mittwoch, den dritten. Laut Welt fragen sich nun in ganz Deutschland die Menschen, wie krank die Kanzlerin ist.

Das beantwortete sie bei einer öffentlichen Pressekonferenz selbst: „Mir geht es gut. Ich hab neulich schon einmal gesagt, dass ich in einer Verarbeitungsphase der letzten militärischen Ehren mit dem Präsidenten Selenski bin. Die ist offensichtlich noch nicht ganz abgeschlossen, aber es gibt Fortschritte und ich muss damit jetzt eine Weile leben. Aber mir geht es sehr gut und man muss sich keine Sorgen machen.“

Angela Merkel war ja schon immer gut darin, etwas zu sagen und dabei nichts zu sagen, aber hier ist sie doch recht deutlich: Sie hat den ersten Zitteranfall noch nicht verarbeitet. Da gibt es eigentlich nicht viel Raum für Spekulationen, selbst der Duden erklärt das Verb „verarbeiten“ damit, etwas geistig oder psychisch zu bewältigen. Kennt doch auch jeder: Wenn einem etwas Unangenehmes in einer bestimmten Situation passiert, man also zum Beispiel einen Vortrag hält und ein Blackout bekommt, dann lässt der nächste Vortrag die Erinnerung daran wieder aufleben, entweder bereits im Vorfeld oder währenddessen. Und genau das, was man unbedingt vermeiden möchte, passiert erneut. Jetzt stellen Sie sich mal vor, Sie sind zudem noch die Bundeskanzlerin und ständig unter Beobachtung. Na, spüren Sie schon den Druck?

Nun kann man natürlich argumentieren (wie es auch viele tun), dass ein Staatsoberhaupt mit diesem Druck umgehen muss, vor allem als Frau. Bloß keine Schwäche zeigen!

Jeder Mensch hat Schwächen, aber unsouverän ist nur, wer versucht, sie zu vertuschen

Dazu zwei Dinge. Erstens: Sie hält dem Druck doch stand. Schließlich hätte Merkel sich nach dem ersten Mal auch krankschreiben lassen können und weitere, ähnliche Situationen vermeiden. Stattdessen stellt sie sich ihren Pflichten und zieht eisern durch, was zu tun ist.

Zweitens: Wer so argumentiert, hat nicht verstanden, dass das Zugeben einer Schwäche eine Stärke ist. Immer. Jeder Mensch hat Schwächen, aber unsouverän ist nur, wer versucht, sie zu vertuschen.

Und nur, um das nochmal klarzustellen: Ein Zittern allein ist noch keine Schwäche, sondern erstmal nur eine Körperreaktion. Genauso wie Schwitzen. Menschen schwitzen, Menschen zittern, Menschen sind keine Roboter. Auch Kanzlerinnen nicht. Angela Merkel ist also, Überraschung!, auch nur ein Mensch. Warum ist das so schwer zu akzeptieren? Und warum würden die meisten Menschen am liebsten Merkels Krankenakte sehen, um sich selbst von der „Wahrheit“ zu überzeugen? Wann würden die Leute denn Ruhe geben – wenn sie sagt: Ich hatte eine Panikattacke? Wohl nicht.

„Ich muss damit jetzt eine Weile leben“, sagte Merkel bei der Pressekonferenz. Das zu formulieren, ist schlau: So greift sie nicht nur künftigen Spekulationen voraus, sondern minimiert auch den Druck, beim nächsten Mal wieder perfekt zu performen. Und was viele als Eingeständnis eines Problems auffassen, zeigt deutlich, dass sie bestens in der Lage ist, Situationen einzuschätzen – oder einzuschätzen lassen.

So eine Sache verschwindet eben nicht über Nacht, das braucht Zeit. Aber vorerst tut es auch erstmal ein Stuhl. Den Empfang der neuen dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen am Donnerstagnachmittag vor dem Kanzleramt in Berlin verfolgte Merkel sitzend – genau wie Frederiksen.

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taz am wochenende
Jahrgang 1984, Redakteurin der taz am wochenende. Bücher: „Rattatatam, mein Herz – Vom Leben mit der Angst“ (2018, KiWi). „Theo weiß, was er will“ (2016, Carlsen). „Müslimädchen – Mein Trauma vom gesunden Leben“ (2013, Lübbe).
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9 Kommentare

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  • Jetzt wissen wir alles über den Staatsbesuch der dänischen Ministerpräsidenten ..... oder?



    Genau wie alle andere Medien die ich nutze, ARD, ZDF, Phönix, Radio Bremen, Weser Kurier, vergisst die taz uns mitzuteilen, was der Zweck des Staatsbesuch war und was dabei herausgekommen ist.



    Frau Frederiksen wird doch wohl nicht Frau Merkel besucht haben, um gemeinsam einer Blaskapelle zu lauschen.

  • Haben wir nicht eigentlich andere Probleme?

    Ich würde mal davon ausgehen, dass die Dame gut ärztlich versorgt ist, und dass ihre Ärztin ihr schon sagt, wenn sie kürzer treten muss.

    Nächstes Thema?

  • Eins kann ich versprechen: Sollte mir jemals wieder jemand abverlangen, dass ich mich über einen halbnackten Putin auf‘m Pferd aufrege, werde ich versuchen, mich zu erinnern, ob dieser-welcher einer von denen gewesen ist, die „das dritte Zittern“ der Kanzlerin zur weltbewegenden Sensation aufgeblasen und/oder in den Hauptnachrichten bebildert haben. Dass dann niemand verletzt wird, kann ich nicht versprechen.

    Eine Kanzlerin ist weder ein Zwölfender noch ein bronzezeitlicher Heerführer. Sie muss nicht mit körperlicher Kraft glänzen. Sie muss vor allem fit im Kopf sein, nicht fit im Schritt oder im Muskulus biceps femoris. Aber in den Kopf einer Kanzlerin können ihre Neider natürlich nicht hineinsehen. Wahrscheinlich kaprizieren sie sich deswegen so stark auf den dämlichen zweiköpfigen Oberschenkelmuskel, auch Beinbeuger genannt. Auch, wenn das über ihre eigene Oberstübchen-Fitness nicht eben das beste Zeugnis ablegt.

    Vermutlich hätte sich kein einziger geistig halbwegs Gesunder die Frage gestellt, „wie krank die Kanzlerin ist“, wenn die Welt nicht gemeint hätte, sie müsste diese Frage aufwerfen. „Ganz Deutschland“ hat schließlich andere Probleme als die Knie ihrer Kanzlerin. Sogar im Sommerloch. Gerade da. Was die Macher der Welt vermutlich veranlasst hat zu fragen, wie lange sie dem „Druck“ der sinkenden Sensationsnachfrage wohl noch standhalten wird. Nicht lamnge, hat sie offenbar befunden - und geglaubt, sie müsse auf sich aufmerksam machen, in dem sie jenen "Druck" erzeugt, den Bundeskanzler*innen angeblich aushalten können müssen.

    Jeder Mensch hat Schwächen, auch die Redakteure von Tagesschau und Welt. Leider sind diese Leute unsouverän genug, das nicht nur vertuschen zu wollen, sondern auch andere in die so sehr gefürchtete Lage zu zwingen. Der Starke sei am mutigsten allein, heißt es. Der Feige aber braucht ganz offensichtlich ganz viel Gesellschaft in seiner Angst.

  • Vielen Dank für den sehr guten Artikel. Für die andere Presse ist es beschämend, dass ausgerechnet die taz, der man nicht nachsagen könnte, der CDU nahe zu stehen, den Mensch in den Mittelpunkt rückt und damit Angela Merkel den Rücken stärkt, während alle anderen Presseorgane sich auf die Sensation einschießen.

  • Es sieht doch sehr danach aus, dass Frau Merkel der Öffentlichkeit einen Bären aufbindet. Es wäre schließlich nicht das erste Mal.



    Eine zitternde Bundeskanzlerin ist kein Problem. Sie könnte auch im Rollstuhl sitzen und könnte genauso regieren.



    Ein Problem ist jedoch der Verdacht, dass sie schwerer erkrankt sein könnte.



    Sie verneint das, aber es ist Aufgabe der Presse, die Aussagen von Politiker*innen zu hinterfragen. Wäre es tatsächlich nur die psychologische Verarbeitung des ersten Zitterns, so wären die Zitteranfälle ja bald vorbei. Von daher kann man natürlich auch ein wenig abwarten, ob Frau Merkel hier die Wahrheit gesagt hat. Unangemessen für eine Demokratie ist es jedoch, das Nachhaken hier unmoralisch zu bezeichnen. Weil die Presse hier weitgehend untätig blieb, wurde hier das Feld dem rechten Rand überlassen. Es ist keine Majestätsbeleidigung, sondern Aufgabe der Presse, Aussagen von Politiker*innen zu hinterfragen - auch hier.

  • 8G
    88181 (Profil gelöscht)

    Ich kenne dieses Zittern auch. Bei mir liegt dann einen Unterzuckerung vor. Ein oder zwei Snickers schaffen dann Abhilfe. Die kann man natürlich schlecht bei so einem Empfang heimlich reinmümmeln.

    Cool wäre es natürlich Merkel könnte dann sagen: Hey Leute, wundert euch nicht. Ich bin unterzuckert und muss eben mal was essen.

    • @88181 (Profil gelöscht):

      Pragmatischer und humorvoller Kommentar, lieber Jim Hawkins. Danke!

      Einfach mal schön locker bleiben und sich gelegentlich auch selbst in Frage zu stellen, ist Selbstreinigung für Gemüt und Angemessenheit.

    • 9G
      91867 (Profil gelöscht)
      @88181 (Profil gelöscht):

      Und wieder eine überflüssige Ferndiagnose mehr!