Über die Zunahme der antiqueeren Gewalt: „Die ‚schwule Sau‘ kann locker 1.800 Euro kosten“
Es sei ein Armutszeugnis, dass sich queere Menschen selbst am CSD nicht mehr sicher bewegen können, sagt Bastian Finke vom Antigewaltprojekt Maneo.

taz: Herr Finke, am Samstag werden Hunderttausende zum CSD in Berlin erwartet, so wie jedes Jahr. Bestehen aus Ihrer Sicht Sicherheitsbedenken angesichts der zunehmenden antiqueeren Gewalt?
Bastian Finke: Es gibt keine akute, aber deutschlandweit eine allgemeine Bedrohungssituation, die auch den Berliner CSD betrifft. Die Veranstalter sind mit der Polizei in einem regen Austausch. Die Polizei hat auch uns noch einmal versichert, dass sie alles unternehmen wird, um den CSD zu begleiten und zu beschützen. Wir haben natürlich nicht nur den Demonstrationszug allein im Blick, sondern auch die Menschen, die zum CSD kommen, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln oder auch zu Fuß unterwegs sind, und anschließend wieder nach Hause gehen oder weiterziehen zu Veranstaltungen und Partys. Das alles ist in so einer großen Stadt schwerlich abzusichern. Deshalb lautet unser Appell an alle: Bleibt zusammen, bildet, wenn möglich, kleine Grüppchen, und vor allem, wenn irgendwas sein sollte, verständigt die Polizei – und auch Maneo.
Jahrgang 1960, ist gebürtiger Berliner, Diplomsoziologe und Fachberater für Opferhilfe, Psychotraumatologie und psychosoziale Prozessbegleitung. Seit 1990 ist er Leiter von Maneo, dem schwulen Antigewaltprojekt.
taz: Ich wollte gerade nach Verhaltenstipps fragen, um die eigene Sicherheit zu gewährleisten oder zu erhöhen.
Finke: Sich zu verabreden, gemeinsam zum CSD zu fahren oder auch gemeinsam wieder nach Hause zu fahren – das wären die wichtigsten Tipps. Und natürlich sofort die Polizei verständigen, wenn irgendetwas an Bedrohung entsteht. Sich an mögliche Zeugen wenden, an Menschen um einen herum, Hilfe einfordern, Anfeindungen nicht auf sich sitzen lassen.
taz: Ist das nicht ein Armutszeugnis. Wir Queers müssen aufpassen, dass uns in Berlin nichts passiert.
Finke: In der Tat. Es ist traurig und erschreckend, dass wir als LSBTIQ+ Schutz brauchen, dass Menschen, nur weil sie sind, was sie sind, sich nicht überall frei bewegen können. Umso wichtiger sind meiner Meinung nach Allianzen und Bündnisse, sind Menschen, die Haltung zeigen, nicht weg-, sondern hinschauen, Hilfe verständigen, sich als Zeugen zur Verfügung stellen. Die Strafverfolgungsbehörden in Berlin sind gewillt, Hasskriminalität empfindlich zu bestrafen. Die „schwule Sau“ kann locker 1.800 Euro kosten.
taz: Wie dramatisch ist die Lage? Ihr Projekt zählt ja die Vorfälle.
Finke: Für uns sind das Übergriffe, die sich gezielt im Bereich von Diskriminierung und Hasskriminalität bewegen. Wir reden momentan nicht von einer extremen, aber von einer angespannten Situation, weil wir von so vielen Übergriffen betroffen sind und sie sich immer wieder da ereignen, wo Menschen sichtbar werden. LSBTIQ+, die sichtbar werden und auch alle, die sich solidarisch erklären, und das beispielsweise mit Regenbogenflaggen oder Regenbogenbändchen zeigen, sind von Anfeindungen betroffen. Und wenn dann eine Polizeipräsidentin wie in diesem Frühjahr erklärt, dass sich Schwule und Lesben und auch jüdische Mitmenschen in bestimmten Bezirken vorsehen sollen, dann zeigt das, dass wir nicht in einer entspannten Situation leben.
Das schwule Anti-Gewalt-Projekt in Berlin ist ein eigenständiges Projekt des Vereins Mann-O-Meter e.V., hervorgegangen aus dem 1990 gegründeten Schwulen Überfalltelefon Berlin, bietet MANEO heute als spezifische Fachopferhilfe Beratung und Unterstützung für Schwule und männliche Bisexuelle in Berlin an und erfasst Fälle homophober Gewalt und Diskriminierung. Das Projekt ist darüber hinaus in der Gewaltpräventionsarbeit tätig. MANEO klärt über Risiken auf und berät Betroffene, die Anzeige erstatten möchten. Seit 2020 organisiert MANEO das Projekt Nachtbürgermeister Regenbogenkiez. (heg)
taz: Wie sehen die konkreten Zahlen aus? Wie groß ist die Steigerung der Übergriffe?
Finke: Wir haben im letzten Jahr 8 Prozent mehr Fälle erfasst. In Zahlen waren das 738 Übergriffe. Das ist aber nur die Spitze des Eisberges. Wir wissen, dass es ein hohes Dunkelfeld gibt. Und wir wissen aus vielen Erzählungen von Betroffenen, warum sie sich teilweise nicht bei uns melden oder die Tat anzeigen. Das hat oft mit Minderheitenstress zu tun, verursacht durch viele Vorerlebnisse, bei denen leider oft die Unterstützung, egal ob durch Eltern, Lehrer oder im sozialen Umfeld, gefehlt hat. Das ist eine Erfahrung, die vielen sagt: Das bringt nichts. Der Akt einer Anzeige kann deshalb schon als Überforderung erlebt werden. Deshalb schlucke ich das lieber alles runter und tue gar nichts.
taz: Das ist ein unheilvoller Kreislauf.
Finke: Den zu durchbrechen würde bedeuten, sich beispielsweise an uns zu wenden und Unterstützung zu bekommen. Eben doch nicht allein zu bleiben, dabei helfen wir.
taz: Wer ist betroffen?
Finke: Alle LSBTIQ+ sind betroffen, da gibt es keinen Unterschied. Was aber heraussticht, sind die stereotypen Rollenbilder, wie sich ein Mann oder eine Frau zu verhalten haben. Und wenn ein Mensch mit solchen Vorstellungen plötzlich jemanden gegenübersteht, der oder die diesen Rollenerwartungen nicht entspricht, kommt es oft zu Übergriffen. In der Öffentlichkeit vehement zugeschlagen wird gegen Männer, und die Täter sind oft männlich. Aber auch Trans*personen oder Lesben sind betroffen. Wenn wir aber von LSBTIQ+ feindlicher Gewalt sprechen, dann sehen wir auch andere Taträume und Tatgelegenheiten. Da spielt beispielsweise das Internet eine ganz große Rolle, oder die Schule, oder der Fußball. Da gibt es so gut wie gar keine Unterschiede. Letztendlich kann es jeden treffen.
taz: Was wissen Sie über die Täter:innen? Da gibt es sehr viele stereotype Annahmen.
Finke: Wir haben ein bisschen das Problem, dass wir nicht alle Taten so verfolgen können, dass wir noch mehr Informationen über die Täter herausbekommen. Da fehlen uns die Zugänge. Wir hätten die Zugänge, wenn uns Opfer auch von Gerichtsverhandlungen erzählen würden oder von Verurteilungen. Wir kriegen in der Regel nur einen Bruchteil von dem mit. Diejenigen, die am besten darüber Auskunft geben könnten, wären die Strafverfolgungsbehörden. Wir wissen von den Erzählungen der Betroffenen, dass es überwiegend Männer sind, die diese Übergriffe begehen. Und das sind eben oft Männer mit einem sehr engen Weltbild, wo scheinbar nur oben und unten, schwarz und weiß, richtig oder falsch Gültigkeit haben.
taz: Da muss ich an das Regenbogenfahnen-Verbot am Reichstag und die Debatte um die „Zirkuszelt“-Äußerung von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) denken.
Finke: Das sind gerade komplett falsche Signale vor dem Hintergrund dieser angespannten Situation. Auch international müssen wir ja die Einflüsse mit berücksichtigen, ob nun aus Russland oder den USA. Das sind alles Dinge, die uns berühren. Und solche Entscheidungen wie das Flaggenverbot am Bundestag sind genau die falschen Signale, die wir in einer solchen Zeit nicht brauchen. Gerade jetzt, wo das Land Berlin eine Gesetzesinitiative zur Änderung des Grundgesetzes, Artikel 3, auf den Weg gebracht hat (um dort den Schutz von „sexueller Identität“ zu ergänzen; Anm. d. Red.).
taz: Blicken Sie eher optimistisch oder eher pessimistisch in die Zukunft? Auch angesichts drohender Budgetkürzungen. Am Tag unseres Gesprächs wurde der Entwurf zum Doppelhaushalt für 2026/27 beschlossen. Ist Ihr Projekt von Kürzungen betroffen?
Finke: Ja, aber wir wissen es noch nicht endgültig. Wir haben weiterhin die Hoffnung, dass wir glimpflich davonkommen. Denn wir brauchen eigentlich mehr denn je Unterstützung für Aufklärung und soziale Aufgaben. Mögliche Kürzungen sind da keine guten Signale. Aber ich sage anerkennend in Richtung der Politik, dass sich da Menschen wirklich bemühen. Man muss würdigen, dass Vertreter der Regierungsparteien im Gespräch mit den Interessenvertretern aus den Communities nach einer Lösung suchen. Das geht nicht einfach zack-zack und die Kürzungen sind da, das ist begleitet von Austausch und Dialog. Auch mit der Idee, ob wir da noch etwas Luft haben, vielleicht etwas reduzieren oder einsparen können. Das schätze ich sehr, dass es da einen Austausch gibt in dem Bemühen, die Arbeit in den Communities zu erhalten und nicht einzudampfen.
taz: Also ist das Glas halb voll – oder halb leer?
Finke: Naja, wir sind mit vielen Dingen schon seit Jahren nicht glücklich. Da ist zum Beispiel der Bedarf in der spezifischen Opferhilfearbeit, eben für Menschen in unseren vulnerablen Szenen, der schon seit Jahren bei Weitem nicht gedeckt ist. Das tut der Genesung von Menschen nicht gut, wenn sie die Unterstützung nicht erhalten, die sie eigentlich bräuchten. Grundsätzlich schaue ich nicht negativ in die Zukunft – aber ich schaue besorgt in die Zukunft.
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