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Über die Notwendigkeit, zu grüßenCorona-Altlasten

Darf man Menschen, die sich mutmaßlich schlecht benommen haben, durch Nicht-Grüßen ignorieren? Der Ethikrat wendet sich lebenden Bildern zu.

Über den Rum verlor der Ethikrat die Frage nach der Notwendigkeit des Grüßens aus dem Blick Foto: Rainer Jensen/dpa

K ürzlich klingelte es an einem regnerischen Abend spät an der Haustür und wie immer fürchtete ich, dass es die Nachbarinnen von unten sein würden, die sich über Lärm beschweren wollten. Tatsächlich lag die letzte Beschwerde ein paar Wochen zurück, die Kinder schliefen und ich saß lautlos in der Küche, aber die Furcht ist ein hartnäckiger Begleiter. Ich sollte den Ethikrat nach einem konstruktiven Umgang mit dem Irrationalen fragen, dachte ich und öffnete zögerlich die Tür.

Dort stand der Ethikrat. Der Rat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Sachen praktischer Ethik geben. Das Wasser troff aus ihren Anzügen und sie wirkten milde unfroh. „Wir haben uns ausgesperrt“, sagte der Ratsvorsitzende. „Wäre es möglich, dass wir kurzfristig bei Ihnen unterkommen?“ „Natürlich“, sagte ich, „brauchen Sie etwas Trockenes zum Anziehen?“, und bereute die Frage umgehend, denn ich hatte nichts in der Größe des Rats anzubieten. „Wenn Sie drei Bettlaken für uns hätten, wäre das hilfreich“, sagte der Vorsitzende.

Der Rat hüllte sich in die Laken, während ich im Flur wartete. „Vielleicht täte uns ein Schluck Rum gut“, sagte eines der Mitglieder, das in der Regel schwieg, und ich dachte bedauernd, dass der Rat zunehmend von der strengen Förmlichkeit der Anfangszeit abrückte. „Vielleicht könnte ich Ihnen nebenbei auch eine Frage vorlegen“, sagte ich und stellte die Flasche auf den Tisch.

„Ich kämpfe immer noch mit den Corona-Altlasten“, begann ich, „genauer in der Kita, wo ich ein paar Eltern zu Coronazeiten so wenig solidarisch fand, dass ich einfach keine Lust habe, sie zu grüßen. Und ich habe gerade nicht die Kraft herauszufinden, ob alles nur ein übles Missverständnis war und sie gar nicht um jeden Preis ihre Einzelinteressen durchgeboxt haben.“

Der Vorsitzende betrachtete prüfend den Rum, in den ich viel Geld investiert hatte, um die häusliche Stimmung aufzubessern. Natürlich war ihm meine Frage zu banal, natürlich konnte man sagen, dass auch die Kitakinder Probleme aus der Welt zu schaffen versuchten, indem sie die Augen zukniffen. Aber gehört es nicht zum philosophischen Erkenntnisweg, die Schlichtheit der eigenen Fragestellungen demütig hinzunehmen?

Vom Recht, eine Beziehung außer Kraft zu setzen

Die schweigenden Ratsmitglieder hatten in einer Küchenschublade die Gummispinnen entdeckt, die vom Kindergeburtstag ­übrig geblieben waren, und prüften, wie lange sie an der Decke kleben blieben. „Was ich meine: Der Gruß ist die symbolische Anerkennung, dass der andere und ich eine soziale Beziehung haben“, sagte ich hastig. „Aber wenn ich eben diese Beziehung zu einem bestimmten Zeitpunkt unklar finde, ist es nicht mein Recht, sie zwischenzeitlich außer Kraft zu setzen?“

„Augenscheinlich sind Sie selbst mit Ihrem Vorgehen nicht ganz einverstanden“, bemerkte der Vorsitzende und nahm einen weiteren Rum. „Na ja“, sagte ich, „es hat etwas, sagen wir, Hilfloses an sich. Aber vielleicht ist es nur das Ungewohnte, soziale Konventionen zu verlassen.“

Bei den Konventionen fiel mir noch ein, was mir kürzlich ein Historiker erzählt hatte: „Ein burgundischer Herzog ließ einen Henker, der ihm beim Einzug in Paris die Hand gereicht hatte, hinrichten, weil dieser Gruß eine Anmaßung war.“ „Und was schlussfolgern Sie daraus in Hinblick auf die Ihnen unliebsamen Eltern?“, fragte der Vorsitzende.

„Darüber müsste ich kurz nachdenken“, sagte ich lahm, aber der Ratsvorsitzende war ohnehin aufgestanden. „In der Zwischenzeit werden wir Filmszenen nachstellen“, sagte er und mir schien, dass er sachte schwankte, „eine moderne Variation der lebenden Bilder. Ich möchte beginnen.“

Er warf sich das Ende des Bettlakens über den Kopf, nahm einen Besen und begann einen russisch anmutenden Tanz, der in einem Sprung endete. Die Ratsmitglieder, die in der Regel schwiegen, begannen, im Takt dazu zu klatschen. Aber noch bevor ich dem Ganzen Einhalt gebieten konnte, klingelte es schrill an der Tür.

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Friederike Gräff
Redakteurin taz nord
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