Über das, was nach dem Tod kommt: Das schauerlichste Übel
Warum sind die Leute so wenig zuversichtlich, was ein Leben nach dem Tod anbelangt? Der Ethikrat ist in der Frage so furchtlos, wie Epikur es wünscht.
K ürzlich besuchte ich mit den Kindern einen schrabbeligen Ponyhof, wo man für zwölf Euro dickbäuchige Tiere einen Waldweg entlangführen darf. Die Ponys hießen Hulda und Gundula, beide strebten ins Gebüsch, um dort zu grasen. Ich zerrte an Huldas Strick, als hinter mir jemand „Nicht doch, Frau Gräff“, sagte. Ich drehte mich um und sah den Vorsitzenden des Ethikrats, der ein geschecktes Pony am Zügel hielt. Neben ihm standen die beiden anderen Mitglieder mit Taschen, aus denen Mohrrüben ragten. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben.
„Sicher wollen Sie das Recht des Tieres auf autonome Entscheidung über den Zeitpunkt seiner Nahrungsaufnahme nicht beschneiden“, sagte der Ratsvorsitzende und tätschelte den Hals des scheckigen Ponys. „Hm“, sagte ich. „Beschäftigen Sie sich jetzt mit Tierrechten?“ „So ist es“, sagte der Vorsitzende. „Womit beschäftigen Sie sich?“
Tatsächlich beschäftigte ich mich lediglich mit den Unebenheiten meines Lebens, aber dann fiel mir ein schönes und trauriges Stück ein, das ich kürzlich auf dem Klavier gespielt hatte: „Bist du bei mir, geh ich mit Freuden zum Sterben und zu meiner Ruh“, heißt der Text. „Wobei es ja eigentlich nicht traurig ist“, sagte ich zum Rat, „er geht ja mit Freuden. Ich habe mich dann gefragt, warum sich die meisten Leute so wenig vom Leben nach dem Tod versprechen. Selbst ich, die nicht zum Optimismus neige, erwarte nicht notwendigerweise ein großes Nichts.“
Die Kinder näherten sich Gundula und Hulda, aber als sie nach den Zügeln griffen, hoben die beiden Ratsmitglieder mahnend ihre Finger. „Sie sollen selbst entscheiden, was sie jetzt tun“, sagten sie. „Vielleicht ist ihnen nicht nach Reitern zumute.“ Der Ratsvorsitzende nahm eine Möhre und bot sie Hulda an. „Ich bin mir bewusst, dass das keine sehr konkrete Frage ist“, sagte ich eilig, „aber es ist doch bemerkenswert, dass in einer Gesellschaft, die sich so desperat an der Endlichkeit abarbeitet, nicht einmal ein bisschen transzendenter Zweckoptimismus herrscht.“
Die Selbstverpflichtung zum glücklichen Leben
Ich habe mich oft gefragt, ob die Menschen früher, als die Auferstehung der Toten ein so fester Glaubenssatz war wie heute die Selbstverpflichtung zum glücklichen Leben, leichter gestorben sind. „Ich glaube das eigentlich nicht, obwohl es theoretisch doch so sein müsste“, sagte ich ein bisschen zögerlich zum Ratsvorsitzenden, weil die Frage genau das Unwissenschaftlich-Waberige hatte, das der Ethikrat verabscheut.
Hulda öffnete ihr Maul und schnappte mit gelblichen Zähnen nach der Möhre. Der Vorsitzende wandte sich zu mir um. „Frau Gräff“, sagte er, „dies ist ein Feld, auf dem Sie die Theorie nur mäßig weit bringt.“ „Das mag sein“, sagte ich, „aber ich frage mich trotzdem: Warum setzen die Leute eher darauf, sich einfrieren zu lassen, als darauf, dass etwas unerfindlich Schönes kommen wird? Nur, weil sie es selbst unter Kontrolle halten wollen?“
„Ich möchte Sie an Epikur erinnern“, sagte der Ratsvorsitzende: „Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.“ Während er das sagte, begann Hulda an seinem Hosenbein zu kauen und er musste sich an einem Birkenstamm festhalten, um nicht zu fallen. Der Ethikrat ist nicht alterslos, dachte ich, man muss auf ihn achten, vielleicht hat sogar er Angst. Aber da hörte ich den Ratsvorsitzenden rufen: „Der Weise fürchtet das Nichtleben nicht“, und sah, wie er Hulda mit einem Birkenzweig davontrieb.
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