US-Komponist John Cage in Halberstadt: Noch 225.930 Tage
639 Jahre lang wird in einer Kirche in Halberstadt ein Orgelstück des US-Komponisten John Cage gespielt. Vergangenen Samstag gab es einen Tonwechsel.
A m Samstag traf ich John Cage. Ich kenne ihn lange, aber wir sind nicht unbedingt befreundet. Das liegt daran, dass John vor 30 Jahren gestorben ist. Als er noch lebte, sagt er einmal: „Bis ich sterbe, wird es Geräusche geben. Und sie werden nach meinem Tod weitermachen. Man braucht sich keine Sorgen um die Zukunft der Musik zu machen.“
Johns Einladung ins Kloster St. Burchardi in Halberstadt in Sachsen-Anhalt konnte ich leider nicht folgen, wir trafen uns daher im virtuellen Raum: er, der Komponist, in den ewigen Klanggründen, und ich, der Autor, gefesselt an mein Arbeitszimmer mit Himmelsblick und Internetanschluss.
Das Kloster wurde im 30-jährigen Krieg geplündert. Bis 1973 befand sich in seiner Kirche ein Schweinestall. John war nie dort. In der Kirche steht ein Holzgestell, das der ersten Großorgel im Dom zu Halberstadt nachempfunden und mittlerweile als Cage-Orgel bekannt ist. Sie spielt seit dem Jahr 2001 das langsamste Orgelstück der Welt, Cages Komposition ORGAN2/ASLSP (gesprochen „Organ two a-s-l-s-p“). ASLSP kann als „as slow as possible“ interpretiert werden. 1998 entstand auf einer Tagung für neue Orgelmusik die Idee, die Spieldauer des Stücks auszureizen. Man fand St. Burchardi und einigte sich auf 639 Jahre. So lange war es damals her, dass die Domorgel in Halberstadt erbaut worden war.
Permanentes Orgeln auf sieben Pfeifen
Wir sind also im 22. Jahr der Aufführung von ORGAN2/ASLSP und am Samstag fand der 15. Klangwechsel statt. Zur Einstimmung hatte ich ein paar Stunden den vorherigen Klang aus insgesamt sieben Einzeltönen gestreamt, ein permanentes Orgeln auf sieben Pfeifen. Okay, wenn ich im Zimmer auf und ab spazierte, war das sicher nicht dasselbe, wie wenn ich mich in der Klosterkirche bewegt hätte. Aber auch hier änderte sich der Klang, wenn ich in die Küche ging und mir einen Kaffee kochte. Das Dissonante verschwand etwas, und durch zwei Zimmer hindurch hörte ich den Sieben-Pfeifen-Akkord nur noch als Signal. John sagt dazu: „Everything we do is music.“ Er ist der Beuys unter den Komponisten.
Dann wurde die beim letzten Klangwechsel am 5. September 2020 hinzugekommene Gis-Pfeife von der Musikwissenschaftlerin Ute Schalz mit weißen Handschuhen, zack, aus der Orgel herausgezogen und hat seitdem Pause bis mindestens zum 5. Juli 2071. Und ich habe ehrlich gesagt zunächst gar keinen Unterschied gehört. Der alte Klang hatte sich so in meine Gehörgänge gefräst, dass diese den Wechsel einfach ignorierten.
Erst allmählich fand der neue Klang in mein Ohr, und, John, ich muss sagen, ich fand ihn etwas enttäuschend. Die Dissonanz war schlanker geworden. Langweiliger, ein bisschen so wie der Wechsel vom Sound einer Musikanlage zum Klang eines Billiglaptops.
John erklärte: „Wenn etwas nach zwei Minuten langweilig ist, versuch es für vier. Wenn es dann noch langweilig ist, für acht. Dann sechzehn. Dann zweiunddreißig. Irgendwann stellt man fest, dass es gar nicht langweilig ist.“ Vom Samstag an sollte das Konzert noch 225.930 Tage dauern. Zeit genug, das auszuprobieren.
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