US-Invasion in Grenada vor 40 Jahren: Gespaltene Erinnerungen
Mit der Besetzung Grenadas beendeten die USA eine linke Revolution, welche die Karibikinsel umkrempelte. Fünf Zeitzeugen erzählen.
I dyllische Ruhe herrscht im Botanischen Garten von Saint George’s, der Hauptstadt der Karibikinsel Grenada. Kolonial in seinem Ursprung, dominiert dort bis heute ein gepflegter „englischer“ Rasen und ein Orchesterpavillon, um den herum allerlei Vögel der Karibik ihr Bestes geben. Neben Palmen und schattenspendenden Bäumen steht am Eingang ein Denkmal des ersten Premierministers des unabhängigen Grenada ab 1974: Eric Gairy. Weiter weg erinnert ein weißes Kreuz an die grenadischen Gefallenen der beiden Weltkriege, daneben ein Gedenkstein an einen Besuch von Prinz Edward und ein weiterer an den Besuch von Nelson Mandela und Desmond Tutu.
Etwas gestresst steigt Edward Frank aus seinem Wagen. Eigentlich soll der 64-jährige Touristenführer schon bei der Arbeit sein, aber das Gespräch mit der taz ist ihm wichtig. Er reflektiert über die bewegte Zeit vor vier Jahrzehnten, als erst 1979 die linke New-Jewel-Bewegung (NJM) die Regierung Eric Gairys stürzte, 1983 die NJM-Regierung sich selbst zerfleischte und schließlich die USA Grenada besetzten – am 25. Oktober 1983, vor genau vierzig Jahren.
Damals, als die Revolution am 13. März 1979 mit der Machtergreifung der NJM begann, war Frank 20 Jahre alt und arbeitete für den Sender Radio Grenada. „Ich hatte weder vom Marxismus noch vom Leninismus eine Ahnung“, sagte er. „Ich wusste nur, dass hier eine Gruppe Revolutionäre eine bessere Zukunft versprachen, eine neue und gerechtere Gesellschaft und ein Ende der brutalen Gewalt durch die Polizei.“ Die Gairy-Regierung hatte eine Art Geheimpolizei, die hart gegen politische Gegner vorging. Die 1973 gegründete NJM stützte sich ideologisch sowohl auf den Marxismus-Leninismus als auch auf schwarze Befreiungsideologien. 1980 sollte auf Grenada eigentlich gewählt werden und die Chancen für die NJM standen nicht schlecht. Nachdem Premier Gairy jedoch seine Geheimpolizei zunehmend brutal gegen andere Parteien einsetzte, kam die Idee eines Putsches auf.
Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.
Als es am 13. März 1979 zum Umsturz kam, begrüßte Frank diesen. Er kannte den Führer der NJM, Maurice Bishop, bereits. Dieser ließ sein Auto gegenüber dem Haus seiner Eltern reparieren, während der Reparaturen holte er sich gekühlte Getränke von der Bar seiner Eltern. Frank fand ihn sympathisch. „Als ich am Morgen nach der Übernahme zur Arbeit ging, verbrachte ich meine Zeit damit, von der Gairy-Regierung verbotene Lieder über den Äther zu senden: zensierter Calypso und Reggae, Revolutions-Songs für Gleichberechtigung“, beschreibt Frank die Anfänge.
Und tatsächlich, schon sehr bald änderten sich Dinge. Grenadier:innen erhielten plötzlich Stipendien, um im Ausland studieren zu können, erinnert sich Frank. Bis heute gebe es Ärzt:innen in Grenada, die zu dieser Zeit in Kuba, der Sowjetunion oder in der DDR ausgebildet wurden. Auch bei der Arbeit gab es Neues für Frank. Zweimal die Woche musste er dreistündige Erziehungsstunden zum Thema Marxismus und Leninismus über sich ergehen lassen. Andernorts entstanden Agrar- sowie kleinindustrielle Projekte. Basisgruppen durften politisch mitentscheiden. Es gab für alle eine kostenlose Gesundheitsversorgung. Mit der Unterstützung Kubas sollte ein größerer Flughafen gebaut werden.
Doch eines nahm laut Frank bedauerlicherweise nicht ab: Die Gewalt gegen Andersdenkende. „Unter der revolutionären Regierung wurden 3.114 Personen ohne Gerichtsverfahren eingesperrt. Dieser Zahl können Sie entnehmen, dass es viele in Grenada gibt, die über die Jahre der Revolution sehr negativ sprechen“, sagt Frank.
Der Rastafari Prinz Nna Nna ist einer davon. Als die taz ihn trifft, hat er mit seinem langem Bart, der in Locks übergeht, etwas Großvater-Ähnliches. Auf dem Kopf trägt er eine rot-gelb-grüne Mütze, auf einem T-Shirt prangt das Motiv des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie, der als Messias und Vertretung Gottes für Rastafaris gilt. Wenn er von der Vergangenheit erzählt, beginnt er damit, die US-amerikanische Invasion, welche 1983 die Revolution beendete, zu rechtfertigen.
„Viele betrachten Amerika in mancher Hinsicht als sehr schlecht. Doch die Amerikaner taten etwas Gutes, als sie zur Zeit der Revolution hierherkamen“, sagt er. Nna Nna landete unter der revolutionären NJM-Regierung hinter Gittern, wurde bei mehreren Fluchtversuchen schwer verwundet, hatte damals insgesamt sieben Schüsse in seinem Körper. „Auch in Äthiopien haben die sozialistischen Führer versucht, Selassie zu bekämpfen“, bemerkt der Rastafari und versucht, die Gewalt einzuordnen: Zu Beginn hätten viele „Rastafarians“ die Revolution noch begrüßt, doch der Glaube an etwas anderes als die rote Fahne wurde fast zum Todesurteil.
Die NJM-Regierung hatte auch gute Seiten. Nicole Phillip-Dowe war 1979 gerade mal sieben Jahre alt. Die heutige Universitätshistorikerin und Leiterin des grenadischen Ablegers der überregionalen University of West Indies hat sich intensiv mit der Rolle von Frauen während der Revolution auseinandergesetzt. In ihrem Büro hängt an der Wand ein Gemälde von Maurice Bishop. „Ein Mitbringsel eines einstigen Freundes vor vielen Jahren“, erklärt sie. Ein weiteres Bild zeigt Maurice Bishop gemeinsam mit Martin Luther King, El-Hajj Malik El-Shabazz (Malcolm X), Marcus Garvey und anderen schwarzen Führern.
„Mein Bezug zur Revolution ist anders als der vieler anderer“, beginnt Phillip-Dowe zu erzählen. Ihre Mutter sei Mitglied der nationalen Frauenorganisation, Volontärin in der revolutionären Miliz, Volkserzieherin und Mitarbeiterin im Büro Bishops gewesen. „Ich bin mit meiner Mutter und meinem Vater ständig zu Veranstaltungen durch das ganze Land gereist und brachte die Erwachsenen zum Lachen, weil ich das Wort Imperialismus nicht richtig aussprechen konnte“, erzählt sie.
Den Regierungschef Maurice Bishop erlebte sie als ansehnlichen Mann. „Er umarmte, küsste und kitzelte mich, stets das kleine Mädchen im Raum.“ Von der Revolution erinnert sie sich an das Motto „Iss was du anbaust – baue an, was du isst.“ Damals wurde viel über Landwirtschaft gesprochen. Sie erwähnt die nationale Sozialversicherung, die Einführung der Elternzeit, gleiche Bezahlung für Frauen staatlicher Sekundärschulen, den neuen Flughafen. Die Kleinindustrien und Agrarprojekte wurden jedoch nach dem Ende der Revolution aufgegeben. Und was die Revolution nicht antastete, waren patriarchale Denkweisen.
„Frauen waren oft doppelt belastet, da von ihnen neben dem Einsatz für die Revolution Haushaltsarbeit und die Kinderversorgung erwartet wurde.“ Auf der anderen Seite hat Phillip-Dowe Freunde, die während oder am Ende der Revolution Angehörige verloren haben. Viele weigerten sich während ihren wissenschaftlichen Nachforschungen, darüber zu sprechen. Die Revolution riss ganze Familien auseinander. Auch eine Wahrheits- und Versöhnungskommission, die 2001 ins Leben gerufen wurde, konnte das alles nicht klären – nicht einmal die bis heute offene Frage, was mit der Leiche von Maurice Bishop geschah.
Denn das Ende der Revolution war ein komplexer Prozess, in dem die US-Invasion nur den letzten Akt darstellte. Zuvor gab es den Sturz von Maurice Bishop aus den eigenen Reihen. Eine Schlüsselfigur dabei war Erwart Layne, der unter der NJM-Regierung die Armee kommandierte. Er unterstützte in dieser Funktion Bishops parteiinternen Rivalen Bernard Coard, der sich am 16. Oktober 1983 zum Premierminister ausrief – was Maurice Bishop nicht überlebte.
Heute ist Layne ein für sein Alter kräftig wirkender 65-Jähriger, dessen gemäßigte Stimme, bescheidenes Auftreten und innere Ruhe überrascht. Layne trifft die taz im Zimmer einer Anwaltskanzlei in Saint George’s und erzählt von alten Zeiten. Er sagt, dass er einer der 46 Personen gewesen sei, die Eric Gairys stürzten. Auch am Ende der Revolution war er mitbeteiligt. Er befahl seinen Soldaten am 16. Oktober 1983, zum Hauptquartier des Militärs zu eilen, das Maurice Bishop und seine Unterstützer:innen besetzt hielten. Die Ankunft der Soldaten brachte die Lage im Fort zur Eskalation. Nach wenigen Stunden wurde Maurice Bishop mit sieben weiteren Personen durch ein Erschießungskommando entlang einer Mauer im Fort hingerichtet.
Die Organisation ostkaribischer Staaten sowie der britische Generalgouverneur von Grenada hatten Sorge, dass das ganze Land kollabiert. Sie sendeten deshalb Hilferufe Richtung Washington. Diese sowie der Mord von Bishop führten dann am 25. Oktober 1983 zur Landung US-amerikanischer Truppen, unter dem offiziellen Vorwand, man wolle die Sicherheit von US-Bürger:innen garantieren. Die Sorge von US-Präsident Ronald Reagan, die Insel würde sich in einen sowjetisch-kubanischen Stützpunkt verwandeln, spielte zudem eine strategische Rolle. Großbritannien rügte die Invasion, welche dann auch die grenadische Revolution beendete.
Ein Gericht fand, dass Layne mit 16 weiteren Personen für die Erschießung von Maurice Bishop und sieben anderer mitverantwortlich war. Von den „Grenada 17“ wurden 14 Personen, darunter Layne, 1986 zum Tode verurteilt. Dass Layne und andere heute noch leben, liegt an einem späteren Verfahren, welches das Strafmaß der „Grenada 17“ auf „lebenslang“ änderte. 2006 kamen er und die anderen schließlich frei. Was genau die Revolution und ihren Führungsstab so brutal zerriss, ist bis heute nicht ganz klar. Manche schieben es auf Infiltration, andere auf politische Unterschiede. Layne hat seine eigene Theorie.
„Es bestand zunehmende Angst unter uns, dass die CIA – Amerika, wie auch immer Sie es nennen wollen – uns infiltrieren und die Revolution stürzen würde. Obendrein gab es Druck von Kuba.“ In der Revolution seien Andersdenkende zu Untermenschen und legitimen Zielen erklärt worden, erinnert er sich. Die Bedeutung von Gewalt- und Meinungsfreiheit sei seine wichtigste Lehre aus der Revolution. Layne bildete sich im Gefängnis zum Rechtsanwalt weiter. Obwohl er seine Strafe abgesessen hat, fehlt ihm die staatliche Zulassung, da die grenadische Anwaltsvereinigung glaubt, er sei aufgrund seiner Vergangenheit ungeeignet zur Ausübung dieses Berufes.
Was bedeutet das alles, 40 Jahre später? Wendy Grenade, Politikwissenschaftlerin an der St. George’s University in Grenada und Autorin des Buches „The Grenada Revolution“, beschreibt die grenadische Revolution als einen der zentralen Augenblicke in der Freiheitssuche der Karibik nach der Sklaverei und dem Kolonialismus. „Es ging um Freiheit, Menschenwürde, Chancen, Mitspracherecht und Selbstbestimmung“, sagt sie. Grenada war damals „ein kleiner, sich mit Zuversicht selbst behauptender Staat, der aufrecht stehen wollte.“ Ähnlich lautet Phillip-Dowes Bilanz jener vier Jahre: „Es war der Versuch, auf den eigenen Beinen zu stehen.“
40 Jahre später hat Grenada ein neues Problem: Amnesie. Die taz findet auf der Insel niemanden unter 30 Jahren, die oder der viel oder überhaupt etwas über die Revolution zu sagen hat. Nicole Phillip-Dowe hat versucht, die Revolution in den schulischen Geschichtsunterricht zu bringen. Bei den karibischen Lehrbehörden stieß sie damit auf Gegenwehr. Doch seit diesem September gibt es ein von ihr zusammengestelltes Geschichtsbuch für den Schulunterricht, in dem auch Wissen über die Revolution vermittelt wird. „Es ist Basiswissen. Wir erzählen, dass es eine Revolution gab, dass sich die Leute spalteten und danach der Premierminister ermordet wurde“, erläutert sie. Es gehe darum, über Konflikte und deren Lösungen zu sprechen. In den höheren Klassen gehe es dann um die Einzelheiten. Ihre Hoffnung sei, dass die jüngeren Generationen anfingen, ihre Familien zu befragen, solange es noch Zeitzeugen gäbe.
Und seit einem Jahr gibt es in Grenada einen neuen Bewunderer Maurice Bishops: Premierminister Dickon Mitchell. Der Parteiführer von Grenadas sozialdemokratischem NDC (National Democratic Congress), der das Land seit 2022 regiert, war beim Ende der Revolution 1983 gerade mal fünf Jahre alt. Jetzt hat er in einer Videobotschaft auf der „The State of the Black World Conference“ Maurice Bishop als große Persönlichkeit beschrieben.
„Bishop stand für das Potenzial und die Kraft junger Menschen im Einsatz für Veränderungen, für soziale Gerechtigkeit in der Welt“, so Mitchell. Er sei eine Inspiration gewesen. „Wir wollen daran glauben, dass wenn Maurice heute leben würde, er auf uns stolz wäre.“ Kein Wunder, dass viele in Grenada Mitchell als eine Art Nachfolger Bishops sehen wollen. Der Vergleich fällt öfter auf den Straßen in Grenada. „Sie sehen etwas vom Geist Maurice Bishops, dass eine bessere Welt möglich ist, verkörpert von diesem jüngeren, menschennahen politischen Führer voller Ideen, die Hoffnung verbreiten und inspirieren“, glaubt die Politikwissenschaftlerin Wendy Grenade.
Immerhin trägt der Flughafen Grenadas, der nach der US-Invasion von den USA fertig gebaut wurde, inzwischen Maurice Bishops Namen. Und neben dem Gairy-Denkmal im Botanischen Garten ist noch Platz. Vielleicht für Maurice Bishop.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid