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UNHCR-Statistiker über Flüchtende„Flucht ist ein dynamisches Feld“

Wie lassen sich 100 Millionen Flüchtende zählen? Der UNHCR-Statistiker Tarek Abou-Chabake über seinen Versuch, das Leid der Welt in Zahlen zu messen.

Menschen im Kongo flohen im Mai vor Kämpfen zwischen Streitkräften und M23-Rebellen Foto: Moses Sawasawa/ap
Christian Jakob
Interview von Christian Jakob

taz: Herr Abou-Chabake, Sie haben die Zahl vertriebener Menschen auf der Welt Ende 2021 mit 89,3 Millionen höher denn je taxiert. Wie ­genau kann ein solcher Wert wirklich sein?

Tarek Abou-Chabake: In die Berechnung fließen eigene Zahlen, Angaben von Regierungen und NGOs ein. Wir können viele Bereiche so relativ genau eruieren. Aber Flucht ist ein sehr dynamisches Feld. Und auch wenn unsere Berechnung sehr exakt ist, kann sie natürlich nicht perfekt sein. Manche der eingeflossenen Zahlen sind Schätzungen. Das gilt vor allem für die Binnenvertriebenen, die großen Schwankungen unterliegen. Aber insgesamt denken wir, dass die Summe von 89,3 Millionen eine sehr genaue Angabe ist.

Wie hoch ist die Dunkelziffer, etwa von Menschen im Transit in Libyen oder großen Fluchtbewegungen in schwer zugänglichen Regionen Afrikas?

Manche abgelegenen Regionen sind für uns in der Tat physisch nicht zugänglich. Aber dann gibt es zum Beispiel Satellitenbilder, auf deren Grundlage man schätzen und etwa die Zahl der Behausungen mit einem wahrscheinlichen Faktor von Bewohnern multiplizieren kann. Bei Menschen im Transit hängt es davon ab, ob sie schon einen Asylantrag gestellt haben. Wenn sie das erst noch beabsichtigen, sind sie in einer Grauzone, die statistisch schwierig zu definieren ist.

Die offizielle Zahl globaler Flüchtlinge hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Wie viel davon geht auf zusätzliche Konflikte und Vertreibung zurück, wie viel auf bessere Erfassungsmöglichkeiten und auf eine breiter gewordene Flüchtlingsdefinition?

Es gibt diese beiden Effekte, aber beide sind nicht exakt quantifizierbar. Die Datenaufbereitung hat sich in den letzten zehn Jahren stark verbessert, es gibt bessere Technologien zur Erfassung. Gleichzeitig hat die Zahl der Konflikte zugenommen. Heute leben nach ­einer Schätzung der Weltbank 850 Millionen Menschen in 23 Ländern mit hoher oder mittlerer Intensität an Konflikten.

Im Interview: Tarek Abou-Chabake

leitet die Abteilung Statistik und Demografie in der Zentrale des UN-­Flüchtlingswerks in Genf.

Polen hat praktisch allen Hilfsorganisationen, inklusive dem UNHCR, den Zugang zum Grenzgebiet nach Belarus verboten. Inwiefern erschweren solche Schikanen Ihre Möglichkeiten, das Fluchtgeschehen zu quantifizieren?

In der EU sind die Regierungen für die meisten Zahlen verantwortlich. Wir erheben die nicht selbst, sondern verlassen uns dabei etwa auf polnische Behörden, auch bei den Flüchtlingen aus der Ukraine. Wir gehen aber davon aus, dass diese Zahlen belastbar sind.

Die weitaus größte Gruppe mit über 53 Millionen Menschen sind Binnenvertriebene im eigenen Land. Wenn man etwa an einen Hirten aus Nordnigeria denkt, der aus Angst vor Überfällen der Boko Haram nach Lagos flüchtet und dort auf der Straße lebt – wie würden Sie von ihm erfahren?

Binnenvertriebene sind eines der am schwierigsten zu erfassenden Phänomene. Der beschriebene Fall ist natürlich ein Paradebeispiel dafür, warum das so ist. Generell erfordern solche Situationen oft teure und statistisch komplexe Studien.

In Deutschland etwa erhalten Flüchtlinge nach der Anerkennung eine Aufenthaltserlaubnis und können später festere Aufenthaltstitel bis hin zur Einbürgerung bekommen. Wie lange zählen Sie jemanden dann noch als Flüchtling?

Solange jemand Flüchtlingsschutz genießt, unabhängig vom Zeitraum. Für uns heißt das entweder bis zur Einbürgerung, zum möglichen Entzug des Flüchtlingsstatus, zu einer Rückkehr oder dem Tod.

Sie beziffern die Zahl der nötigen Plätze für die Neuansiedlung von Geflüchteten aus humanitären Gründen, das sogenannte Resettlement, auf derzeit 1,6 Millionen. Gab es für alle ein Verfahren, diesen Bedarf festzustellen?

Nein, die Zahl ist eine Schätzung auf Basis der Registrierungsdaten. Wir gehen davon aus, dass Flüchtlinge speziellen Schutz erhalten und dazu umgesiedelt werden sollten, wenn etwa starke Traumata vorliegen. Die Zahl jener, die tatsächlich einen solchen Platz bekommen, ist leider extrem gering, das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir haben 2021 rund 63.200 Anträge auf Umsiedlung an mögliche Aufnahmeländer gestellt. Nur ein Teil dieser Anträge wird angenommen.

Die weitaus größten Fluchtbewegungen werden in der Zukunft als Reaktion auf die Klimakrise erwartet. Trotzdem wendet sich der UNHCR im Jahresbericht gegen den Begriff „Klimaflüchtling“ – auch weil er im internationalen Recht nicht enthalten und schwierig zu fassen sei. Können Sie sich trotzdem eine Definition vorstellen, mit der „Klimaflüchtlinge“ methodisch sinnvoll erfasst werden könnten?

Ja, das kann ich, auch wenn es ein sehr komplexes Unterfangen ist. Innerhalb der statistischen Gemeinde gab und gibt es umfassende Diskussionen dazu. Dem höchsten Gremium, der UN Statistical Commission, wurde dazu im vergangenen März ein Vorschlag unterbreitet, wie Indikatoren für Klimawandel operationalisiert werden sollen. In einem zweiten Schritt könnte es dann darum gehen, wie festgestellt wird, inwiefern er Personen konkret betrifft. Dies könnte zu einem Entwurf führen, der in den kommenden Jahren abgesegnet werden und die Möglichkeiten der Zählung verbessern wird.

Kürzlich hieß es, selbst die Flutopfer aus dem deutschen Ahrtal würden nun als Flüchtlinge gelten. Stimmt das?

Nein. Die Opfer des Ahrtal-Unglücks sind nicht Teil irgendeiner anderen UNHCR-Statistik. Das würde ja auch nicht passen, weil es nach keiner Lesart Flüchtlinge sein könnten.

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