UN-Standards für Ernährungssicherheit: Was genau ist eine Hungersnot?
UN-Hilfswerke warnen vor einer Hungersnot im Gazastreifen. Es wäre die bisher größte weltweit. Wann diese eintritt, ist präzise definiert.
Hungersnot ist für internationale Hilfswerke ein sparsam zu verwendender, präzise definierter Begriff. Ein Gebiet befindet sich dann in einer Hungersnot, wenn mindestens 20 Prozent der Bevölkerung nicht einmal Zugang zu den zum Überleben notwendigen 2.100 Kilokalorien pro Tag haben.
Mindestens 30 Prozent der Kinder unter fünf Jahren müssen akut unterernährt sein, also an Auszehrung leiden. Und mindestens 2 von 10.000 Menschen täglich an Nahrungsmangel sterben. Festgelegt ist diese Definition im internationalen Klassifizierungssystem IPC (Integrated Food Security Phase Classification) zum Messen von Ernährungssicherheit. Dieses System, 2004 von den UN in Somalia entwickelt, ist heute der globale Standard.
Stufe 5 auf einer Skala von 1 bis 5
Auf der IPC-Skala von 1 bis 5 ist Hungersnot die Stufe 5. Die Skala reicht von der ersten Stufe „Minimal“ über „Strapaziert“ „Krise“, „Notsituation“ bis hin zu „Katastrophe“ für einzelne Haushalte; für ganze Gebiete heißen die fünf Stufen „Ernährungssicherheit“, „Hunger“, „Akuter Hunger“, „Humanitärer Notfall“ und „Hungersnot“.
Zwangsläufig leiden zahlreiche Menschen bereits unter „katastrophalen“ Bedingungen, bevor die Marke von 20 beziehungsweise 30 Prozent der Gesamtbevölkerung erreicht wird, die eine „Hungersnot“ charakterisiert. Daraus ergibt sich zuweilen Konfusion: UN-Hilfswerke warnen vor einer bevorstehenden Hungersnot, obwohl bereits viele Menschen entsprechend leiden. Dies gilt auch für die aktuelle IPC-Studie zu Gaza.
Der Hungersnotzustand „Katastrophe“ der Stufe 5 betrifft demnach jetzt schon 677.000 Menschen, 30 Prozent der Gesamtbevölkerung. Besonders schlimm ist demnach die Lage im Norden des Gebiets, wo Israels Militäroperation fast alles dem Erdboden gleichgemacht hat. Laut IPC-Bericht leben dort jetzt schon 84 Prozent der Bevölkerung in Stufe 5 (Katastrophe/Hungersnot) und 8 Prozent in Stufe 4 (Notsituation). Die Datenlage beruht auf Haushaltserhebungen bis zum 10. März.
Millionen Menschen von Hunger bedroht
Im gesamten Gazastreifen dürfte die Zahl der Menschen in Stufe 5 laut IPC-Prognose zwischen Mitte März und Mitte Mai auf 1,107 Millionen Menschen steigen, knapp die Hälfte der Gesamtbevölkerung. Bei einer Sterberate von zwei Verhungernden pro 10.000 Menschen pro Tag ergäbe das über 200 Hungertote pro Tag.
Helfer warten nicht auf ein solches Massensterben, bevor sie tätig werden. Allgemein gilt: Ab Stufe 3 ist dringend humanitäre Hilfe erforderlich. Aktuell, so die IPC-Zahlen, leben nur 96.000 Menschen im Gazastreifen nicht bereits in Stufe 3 oder darüber. Sie befinden sich aber auch nicht in Stufe 1, wo man genug zu essen hat – das hat im Gazastreifen kein Mensch mehr. Sie leben in Stufe 2, „Hunger“.
Wie das UN-Welternährungsprogramm WFP ausführt: „In dieser Phase haben die Menschen Schwierigkeiten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, und müssen erhebliche Veränderungen vornehmen, um ihren Bedarf an anderen Lebensmitteln zu decken. Ihr Einkommen ist nicht nachhaltig, und 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung sind akut unterernährt.“
Die bisher größte Hungersnot weltweit
Das sind die Lebensbedingungen der obersten 5 Prozent im Gazastreifen heute. Ab Mitte März, so der IPC-Bericht, wird auch dies vorbei sein. Dann beträgt die Bevölkerungszahl in den Stufen 1 und 2 jeweils: null.
Die befürchtete Hungersnot im Gazastreifen wäre mit über 1 Million Betroffenen außerdem die bisher größte weltweit. In Somalia ging es 2011 um 80.000 Menschen, in Südsudan 2017 um 490.000. In beiden Fällen konnten UN-Hilfswerke massive Hilfsoperationen starten – auch das ist in Gaza nicht in Sicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos