Tutsi in Ostkongo: „Nie wieder“ gilt überall
Die Warnungen vor einem Völkermord gegen die Tutsi in Ostkongo sind ernst zu nehmen. Das alte Gedankengut droht wiederaufzuleben.
N icht jeder Völkermordvorwurf bedeutet, dass es tatsächlich einen Völkermord gibt, und nicht jedes Massaker aufgrund ethnischer Zuordnung ist ein genozidaler Akt. Aber wenn Überlebende und Nachfahren der Opfer des Massenschlachtens in Ruanda 1994, als innerhalb weniger Monate eine Million Tutsi organisierten Massakern zum Opfer fielen, in Vorfällen direkt hinter der Grenze in der Demokratischen Republik Kongo einen neuen Völkermord erkennen, muss man das ernst nehmen.
1994 schaute die Weltgemeinschaft weg – beziehungsweise sie schaute zu und zuckte mit den Achseln. Der Völkermord blieb unvollendet, denn Ruandas Tutsi ergriffen die Macht, aber aus den flüchtigen Tätern Ruandas wurden Täter im Kongo – und die gesamte Bevölkerung im Osten Kongos ist seitdem in einem Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, Unsicherheit und Angst gefangen.
Die globale Sensibilität dafür ist gering, wenn nicht komplett inexistent. Die ruandische Schriftstellerin Scholastique Mukasonga beschreibt in einem ihrer Romane, wie sich ihre Tutsi-Protagonistin nur noch auf dem Friedhof wohl fühlt – unter ihresgleichen. Im Kongo gibt es kaum Friedhöfe für die vielen Opfer des Horrors der vergangenen Jahrzehnte.
Manche Demagogen predigen dort als „endgültige Lösung“ für Kongos Probleme die Verteufelung Ruandas und die Vernichtung der Tutsi. Je mehr die Erinnerung an das Grauen von 1994 verblasst, desto unbekümmerter machen sich anscheinend manche Kongolesen, die damals noch gar nicht geboren waren, dieses unselige Gedankengut zu eigen.
Im Schatten der Ukraine
International monopolisiert der Krieg in der Ukraine die Aufmerksamkeit – verständlicherweise, denn er stellt einen fundamentalen Angriff auf die internationale Staatenordnung dar, wie es ihn seit 1945 nicht mehr gegeben hat. Aber damit verschwinden Kriege und Konflikte anderswo aus der internationalen Wahrnehmung – sei es in Syrien, Myanmar, Äthiopien, der Zentralafrikanischen Republik oder eben in der Demokratischen Republik Kongo. Auch diese Konflikte werfen fundamentale Fragen auf, jeweils ganz unterschiedliche, und von den Antworten darauf hängt das Leben – und Sterben – von Millionen ab.
Werden die betroffenen Menschen damit auf Dauer alleingelassen, stirbt die Idee der Weltgemeinschaft an sich. Falls sie im Afrika der Großen Seen nicht schon längst tot ist, ein unsichtbares Opfer des Völkermords von 1994, in dessen Folge alle Gesellschaften der Region nur noch im Modus der unbarmherzigen Selbstverteidigung operieren. Wenn der Weltgemeinschaft schon sonst nichts einfällt: Einer Wiederholung des Grauens müsste sie entschlossen entgegentreten.
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