Tunnel unter Gaza: Das Spinnennetz der Hamas
Hunderte Kilometer Tunnel soll die Terrorgruppe unter dem Küstenstreifen gegraben haben. Für Israels Armee nicht nur eine strategisches Problem.
„Stellen Sie sich Gaza vor als eine Ebene für Zivilisten und eine weitere für die Hamas“, veranschaulichte ein israelischer Armeesprecher die Lage, „wir versuchen, zu dieser zweiten Ebene zu kommen.“ Die 85-jährige Yocheved Lifschitz, eine der wenigen freigelassenen Geiseln, sprach nach ihrer Rückkehr nach Israel von einem regelrechten „Spinnennetz“, durch das sie sich in ihrer Gefangenschaft bewegen musste.
Die Zerstörung dieses Spinnennetzes ist neben der Befreiung der Geiseln eines der Hauptziele Israels im Gazastreifen, vermutlich deutlich wichtiger als die Ausschaltung von Hamas-Kämpfern. Letztere können – auch vor dem Hintergrund der beispiellosen Zerstörung und der hohen zivilen Opferzahl – leicht ersetzt werden. Die Tunnelinfrastruktur von Grund auf neu zu errichten, würde dagegen Jahre dauern, wenn nicht Jahrzehnte.
Ein asymmetrischer Krieg?
Kriegsexpert*innen sprechen oft von einer Asymmetrie, wenn es wie aktuell um eine Auseinandersetzung zwischen einer ultramodernen Armee mitsamt Luftwaffe und einer Terrorgruppe wie der Hamas geht, deren Schlagkraft mit der israelischen Armee nicht vergleichbar ist. Doch dabei bleibt das Tunnelnetz außer acht: „Unterirdische Kriegsführung verringert das Ungleichgewicht und macht sie für Terrorgruppen überall attraktiv“, argumentiert Daphné Richemond-Barak von der Reichman-Universität in Tel Aviv, eine der führenden Expert*innen für das Tunnelsystem der Hamas, in einem Artikel für Foreign Policy.
Auch der Militärfachmann Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität in München sieht in den Tunneln der Hamas eine „enorme Bedrohung“. Er spricht von einer „dritten Dimension“. In der Regel komme das Risiko für eine Armee von vorne und von oben, also von feindlichen Bodentruppen oder der Luftwaffe. Sobald aber Tunnel im Spiel sind, komme die Bedrohung auch von unten. Auch ließe sich nicht ausschließen, dass feindliche Kräfte plötzlich hinter einem erscheinen.
„Man muss immer befürchten, dass der Feind über die Tunnelsysteme plötzlich im Rücken auftaucht.“ Wie weit verzweigt die Tunnel unter Gaza genau sind, ist nicht bekannt. Die Hamas selbst spricht von 500 Kilometern, was eine Übertreibung sein dürfte. Mehrere hundert Kilometer könnten es jedoch tatsächlich sein. Zum Vergleich: Das Netz der U-Bahn in München hat eine Gesamtlänge von rund 100 Kilometern, das in Berlin rund 150.
Der Gazastreifen ist durchzogen von verschiedenen Arten von Tunneln: Angriffstunnel, die auf israelisches Gebiet führen, aber auch Schmuggeltunnel, die vor allem an der Grenze zu Ägypten sehr verbreitet waren, bevor die Regierung in Kairo sie mit Meerwasser flutete und zum Einsturz brachte. Schließlich – und das ist aktuell die Herausforderung für Israels Bodentruppen – sind da noch die Tunnel innerhalb Gazas, die es den Hamas-Terroristen erlauben, sich klandestin zu bewegen. Rein in die Tunnel und wieder an die Oberfläche geht es über Luftschächte, unscheinbare Türen oder durch die Keller von Privathaushalten.
20 Jahre Arbeit am Tunnelsystem
Unter Grund sollen sich auch Waffenlager und Kommandoräume befinden. Teils seien die Gänge nur zu Fuß passierbar, teils könnten sich Fahrzeuge darin unter Grund bewegen, vermuten Beobachter*innen. Nach israelischen Angaben befindet sich unterhalb der Al-Schifa-Klinik in Gaza-Stadt, dem wichtigsten Krankenhaus des Gazastreifens, sogar eine große Kommandozentrale, die von der Hamas und der Terrorgruppe Islamischer Dschihad gemeinsam genutzt werde.
Dass das Krankenhaus der Hamas für ihre Zwecke dient, berichtete unabhängig auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International bereits in einem Bericht von 2015. Darin hieß es, dass Teile der Klinik von der Hamas zur Inhaftierung, für Verhöre und für Folter genutzt werden. Von unterirdischen Räumlichkeiten unter Al-Schifa war damals allerdings noch nicht die Rede.
Rund 20 Jahre lang hat die Hamas an ihrem Tunnelsystem gearbeitet. Schon bevor Israel seine Armee 2005 aus dem Gazastreifen zurückzog und auch die Siedlungen in dem Küstenstreifen räumte, soll es erste Tunnel gegeben haben. Richtig los ging es jedoch erst nach der Machtübernahme der Hamas 2007 und dem Gazakrieg von 2014.
2014, als Bodentruppen zuletzt in Gaza einmarschierten, um zunächst Raketenangriffe auf Israel zu unterbinden, entdeckte die Armee das damalige Ausmaß des Tunnelsystems. „Zehn Tage nach Beginn des Konflikts verlagerte sich das Hauptziel der Operation plötzlich auf die Entdeckung und Neutralisierung einer Reihe von neu entdeckten geheimen Angriffstunneln, die die Armee überrascht hatten“, heißt es in einer Studie der Universität von Birmingham. Neben vereinzelten journalistischen Berichten sind es unter anderem die damals gesammelten Informationen der Armee, die Rückschlüsse auf das heutige Tunnelsystem zulassen.
Durch Sprengfallen geschüzt
Zerstört wurden damals nach israelischen Angaben 32 Tunnel, von denen rund die Hälfte auf israelisches Gebiet führte. Im kurzen Krieg 2021 sollen nach Armeeangaben weitere 100 Kilometer Tunnel zerstört worden sein, auch das zu diesem Zeitpunkt wohl nur ein Teil des Netzwerks.
Richemond-Barak von der Reichman-Universität weist auf eine wichtige Unterscheidung hin: der zwischen Neutralisierung und Eliminierung. Die Tunnelexpertin geht davon aus, dass Israel sich aktuell nicht damit zufrieden geben wird, die Tunneleingänge zu blockieren oder die gesamten Tunnel mit Zement zu füllen, eine Technik, die etwa bei Schmuggeltunneln an der mexikanisch-amerikanischen Grenze Anwendung fand. Eliminierung heiße, die Tunnel auf ihrer gesamten Länge einbrechen zu lassen, mitsamt Wänden und Dach. Von einem „hard kill“ spricht Richemond-Barak.
Wie das ginge, erklärt Masala: „Effektiv zerstören lassen sich Tunnel durch bunkerbrechende Waffen oder Waffen, die tief ins Erdreich penetrieren und erst 30 oder 40 Meter unter der Erde explodieren.“ Theoretisch, sagt er, könnte man die Tunnel zwar fluten wie die Schmuggeltunnel an der Grenze zu Ägypten, aber dafür sei das Netz der Hamas zu ausgedehnt.
Solange nicht das gesamte Netz zerstört ist, bleiben die Tunnel eine Herausforderung für Israels Armee. Vor wenigen Tagen wurden vier Soldat*innen durch eine Explosion in einem mit Sprengfallen versehenen Tunnel getötet. Die Soldaten hätten sich jedoch nicht hineinbegeben, betonten israelische Medien. „Die Israelis meiden dieses Szenario, weil man nicht ausschließen kann, dass die Tunnel mit Sprengfallen versehen sind“, sagt Masala. „Die israelische Armee ist deshalb extrem zurückhaltend, in die Tunnel reinzugehen. Sie weiß nicht, was ihr da begegnet.“
Die Opferzahlen im Blick haben
Vor allem ist es die technische Überlegenheit der israelischen Armee, die durch eine Kriegsführung unter Grund relativiert werden würde. Moderne Drohnen und Roboter könnten teilweise für Aufklärung innerhalb der Tunnel sorgen, wo Wärmebildkameras versagten, erklärt Masala. Ein Restrisiko bleibe aber immer. Richemond-Barak sieht daher in erster Linie die Luftwaffe gefragt:
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
„Auch wenn die Aufmerksamkeit mittlerweile auf Israels Bodenoffensive gilt, ist die Eliminierung des Tunnelnetzwerks eher ein Job für Israels Luftwaffe.“ Eine komplette Eliminierung des Netzwerks halten allerdings sowohl sie als auch Masala für unrealistisch: „Ich gehe davon aus“, sagt Masala, „dass die Israelis nicht über detaillierte Pläne verfügen, wie viele Tunnel es gibt, wo die Tunnel liegen und vor allem, wie sie miteinander verbunden sind.“
Der Drahtseilakt für Israel besteht in den nächsten Wochen darin, dem Tunnelnetz anders als 2014 und 2021 einen so weitgehenden Schaden zuzufügen, dass eine Instandsetzung nicht innerhalb weniger Jahre machbar wäre, gleichzeitig die eigenen Truppen zu schützen und die Opferzahlen auf palästinensischer Seite im Blick zu behalten.
„Sie riskieren bei der Zerstörung von Tunneln unter Wohnvierteln, dass alles darüber auch zusammenbricht“, sagt Masala, „Sie erzeugen also jede Menge zivile Opfer.“ In diesem Krieg, auf den die Welt blickt und den Israel nur mit internationaler Unterstützung führen kann, ist das jenseits aller moralischen Aspekte auch ein strategischer Faktor.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?