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Tunesien und die Bluttat in Nizza„Wieder einer von uns!“

Im Heimatland des Attentäters reagieren viele Menschen geschockt. Die Radikalisierung vor allem junger Männer hat viele Ursachen.

Eine Verwandte zeigt ein Passfoto Brahim Aissaouis Foto: Zoubeir Souissi/reuters

Tunis taz | „Wieder einer von uns!“ So lautet eine der vielen Schlagzeilen tunesischer Medien am Tag nach dem Attentat von Nizza, bei dem drei Menschen getötet und zwei verletzt worden waren. In Tunesien, einem Land mit elf Millionen Einwohnern, wird mit Schock und Erstaunen aufgenommen, dass nun bereits der dritte große Anschlag der vergangenen Jahre in Europa von einem jungen Tunesier verübt wurde.

Angeblich war Brahim Aissaoui Mitglied der bisher unbekannten Terrorgruppe „Söhne des Mahdi“. Auch wenn das Bekenntnis des Anführers, eines ehemaligen Drogendealers aus der Industriestadt Gafsa, eine Fälschung sein könnte – die vielen positiven Reaktionen von Sympathisanten auf sozialen Medien zeigen: das Vorzeigeland des arabischen Frühlings hat ein Terrorproblem. Mit der andauernden Migration nach Italien ist dieses Phänomen nun auch ein europäisches. 6.000 junge Tunesier, so viele wie aus keinem anderen Land, waren nach 2011 in den Krieg nach Syrien und Libyen gezogen. Der Wunsch, sich dem Islamischen Staat oder Milizen anzuschließen, hatte oft finanzielle Gründe.

Seit der Niederlage des IS in Libyen und Syrien bleibt nur noch die Migration nach Europa, um der aktuellen Wirtschaftskrise und der Stagnation in der tunesischen Provinz zu entfliehen.

Nach Recherchen des Radiosenders Mosaique FM hatte sich Brahim Aissaoui aus der Hafenstadt Sfax zusammen mit anderen Migranten per Boot auf den Weg nach Lampedusa gemacht. Am 20. September waren 21 Boote auf der 130 Kilometer von Sfax entfernten italienischen Insel angekommen. Wahrscheinlich machte sich der 21-Jährige dann mithilfe tunesischer Schlepper auf den Weg nach Frankreich.

Kaum Chancen auf Asyl

Fast 10.000 meist junge Tunesier sind in diesem Jahr auf einer ähnlichen Route nach Italien gekommen. Brahim Aissaoui wurde in Bari ein Bescheid übergeben, der ihn zum Verlassen Italiens auf eigene Kosten und innerhalb von sieben Tagen aufforderte. Doch wer sich aus den Hafenstädten Zarzis oder Sfax auf die Reise in den Schengen-Raum macht, weiß: Er wird so gut wie nie Asyl erhalten und sich in der Illegalität mithilfe von Netzwerken, oft Bekannte aus der Heimatstadt, durchschlagen müssen.

Zusammen mit seiner Familie lebte der 21-Jährige zuletzt in der Hafenstadt Sfax. Sein Vater arbeitet als Polizist, seine Mutter kümmert sich um seine neun Geschwister, seit zwei Jahren interessiere sich Brahim für Religion, berichteten die beiden am Freitag angereisten Journalisten.

Den tunesischen Behörden sind keine Straftaten oder radikalen Ansichten von Aissaoui bekannt. Ihre Aussagen gleichen denen der Eltern der anderen Attentäter aufs Wort. Wie sich ihre Söhne anscheinend in kurzer Zeit radikalisiert hatten, blieb ihrem engsten Umfeld offenbar verborgen.

Dass erfolgreiche politische Reformen und die Radikalisierung vieler junger Männer aus marginalisierten Regionen kein Gegensatz sind, liegt an dem starken sozialen Gefälle in der Gesellschaft. Doch statt mit Investitionen die Situation zu verbessern, setzt der tunesische Staat auf Polizeigewalt wie zu Zeiten der Ben Ali Diktatur.

Tausende im Knast

In Tunesien ist selbst das Hochladen von Inhalten radikaler Gruppen strafbar. Tausende junge Männer sitzen in Gefängnissen, weil sie Videos radikaler Gruppen auf ihren Facebookseiten geteilt oder angesehen haben. Das Innenministerium führt nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen mehr als 100.000 Tunesier als Gefährder. Wer unter dem Verdacht steht ein militanter Islamist zu sein, findet keinen Arbeitsplatz und kann keine Wohnung mieten.

Auch Verwandte der Betroffenen erhalten regelmäßig Besuch von den Sicherheitsbehörden. In Gefängnissen radikalisieren sich viele junge Männer, die wegen Bagatelldelikten zu langjährigen Haftstrafen verurteilt sind.

Brahim Aissaoui war zwar nicht als Gefährder eingestuft, jedoch nach Recherchen tunesischer Journalisten einige seiner Freunde. Auch die in Tunesien scharf geführte Debatte über die Mohammed-Karikaturen könnte Brahim Aissaoui radikalisiert haben.

Ein Abgeordneter des tunesischen Parlamentes hatte mit seiner positiven Reaktion auf den Mord an dem Pariser Lehrer Samuel Paty für Empörung gesorgt. Rached Khiari war letztes Jahr für die religiös-radikale Karama-Partei gewählt worden und schrieb auf seiner Facebook Seite, dass die Beleidigung des Boten Gottes das größte aller Verbrechen sei. „Jeder, der dieses Verbrechen begehe, müsse mit Konsequenzen rechnen.“

Die tunesische Regierung verurteilte den Mord an Paty und das Attentat von Nizza scharf. Die Anti-Terror-Behörde ermittelt gegen Aissaoui und verhört derzeit dessen Eltern und eine unbekannte Zahl von Verwandten. Die Wirtschaftskrise durch die Covid-Pandemie wird auch die Gräben in der Gesellschaft weiter vertiefen. Zehn Jahre nach dem Ende der Diktatur steht Tunesien vor den wohl größten Herausforderungen seit der Unabhängigkeit.

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11 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • 8G
    80576 (Profil gelöscht)

    Dass erfolgreiche politischen Reformen und die Radikalisierung vieler junge Männer aus marginalisierten Regionen kein Gegensatz sind, liegt an dem starken sozialen Gefälle in der Gesellschaft. Doch statt mit Investitionen die Situarion zu verbessern, setzt der deutsche Staat auf Polizei und Justiz.

    In Deutschland ist selbst das Hochladen von Inhalten rechtsradikaler Gruppen strafbar. Junge Männer sitzen in Gefängnissen, weil sie Videos radikaler Gruppen auf ihren Facebookseiten geteilt oder angesehen haben. Wer unter dem Verdacht steht ein militanter Nazi zu sein, findet keinen Arbeitsplatz und kann keine Wohnung mieten.

    Würde die taz sowas schreiben?

  • Ich möchte keine Bild des Täters sehen. Die Opfer sind, wie fast immer, namen- und konturlos und haben keine Geschichte - sind halt Opfer. So wird das nichts.

  • [...]



    Und wieder sind wir unfähig zu reflektieren. Er war doch so ein braver Junge.

    [...] Beitrag gekürzt, bitte beachten Sie die Netiquette. Vielen Dank! Die Moderation

    • @Raidonist:

      Wäre der Islam wirklich derart gefährlich und aggressiv, müßten ja viel mehr Muslime zu Mördern werden. Da Millionen Muslime in Deutschland leben, müßte dann doch wohl jede Woche ein Anschlag passieren. Das ist aber nicht so.

      Daraus muß ich schließen, daß es doch relativ wenige sind, die sich derart radikalisieren.

      Auch im Christentum gibt es genug Pseudoargumente für radikalisierte junge Männer, z.B. der norwegische Attentäter Breivik bezeichnet sich doch selbst als "Kreuzritter".

      Jede intolerante Religion kann irgendeinem Spinner als Argument dienen.

      • 8G
        80576 (Profil gelöscht)
        @kditd:

        Reichen Ihnen die nicht, die wir haben? Gibt es nur die sichtbar gewordenen Mörder:innen, oder sind diese vielmehr die Spitze eines Eisbergs?

        Ist der Neorechtsradikalismus ihrer Meinung nach auch nicht sooooo schlimm, wie viele sagen? Waren ja bisher nur ein paar kranke Typen aka NSU. Hat alles nix mit nix zu tun.

      • @kditd:

        Und dennoch sind es meistens Anhänger des Islam, wenn es um besonders grausame Verbrechen geht.

        In Frankreich mehr als in Deutschland.

        Teil des Problems ist, dass es zu wenig Reaktionen darauf gibt. Auf den Fall in Dresden etwa, soweit ich das weiß, gar keine.

        Töten Polizisten in den USA Schwarze, gehen auf der halben Welt 100tausende auf die Straßen.

        Zurecht natürlich.

        Opfern von Islamisten wird so eine Anteilnahme weniger zuteil.

      • @kditd:

        Ich gebe Ihnen recht,



        aber die Verhältnismässigkeit stimmt einfach nicht mehr.



        Die Wahrnehmung hat sich verändert,



        einfach durch Tatsachen.



        Mit Verhältnismässigkeit meine ich das Darstellen und Verarbeiten von Grausamkeiten.



        Ich stelle mir vor:



        [...]



        Es geht hier explizit um die Motivation Dieses Täters, er musste diese Menschen anfassen, sie festhalten...... full contact, das ist noch mal eine Nummer härter als abknallen.

         

        [...] Beitrag gekürzt. Wir bitten darum, von expliziten Gewalt-Beschreibungen abzusehen. Vielen Dank! Die Moderation

        • @Raidonist:

          In Frankreich wird den Opfern islamischer Anschläge gedacht, in Deutschland versuchen die Politiker davon abzulenken, weil sie dafür verantwortlich. Warum war der Mörder von Dresden in Deutschland. Das haben wir unseren Politikern zu verdanken.

        • @Raidonist:

          Versuchen wir doch einmal, das Thema weiter im Kontext des Artikels zu betrachten.

          Ist es nicht auffällig, das diese brutalen Terroranschläge überwiegend von im Prinzip heimlosen Ausgestoßenen ohne Perspektive begangen werden?

          Von Personen, die - so kann man annehmen - auch Ziel systematischer staatlicher und gesellschaftlicher Erniedrigung sind?

        • @Raidonist:

          Ja, aber

          Bei diesen Verbrechen fehlt jede Verhältnismäßigkeit zumindest im Rahmen der Zivilisation. O.k.

          Der Artikel räumt diesem Phänomen eine Menge Raum ein und liefert auch in den Zwischentönen eine Menge plausibler Erklärungsversuche.



          Die sich allesamt im politisch / sozialen Bereich befinden.

          Ich spüre wenig Motivation, dieses Thema hier wieder auf so einem platten Niveau weiterzuführen.



          Sorry

          • @Sonntagssegler:

            "fehlt jede Verhältnismäßigkeit"



            Genau! ein Beispiel: Beleidigt ein Islamist/Moslem einen Christen un seinen Gott dann zückt der Christ die Achseln. Umgekehrt zückt der die Waffe.