Tunesien und die Bluttat in Nizza: „Wieder einer von uns!“
Im Heimatland des Attentäters reagieren viele Menschen geschockt. Die Radikalisierung vor allem junger Männer hat viele Ursachen.
Angeblich war Brahim Aissaoui Mitglied der bisher unbekannten Terrorgruppe „Söhne des Mahdi“. Auch wenn das Bekenntnis des Anführers, eines ehemaligen Drogendealers aus der Industriestadt Gafsa, eine Fälschung sein könnte – die vielen positiven Reaktionen von Sympathisanten auf sozialen Medien zeigen: das Vorzeigeland des arabischen Frühlings hat ein Terrorproblem. Mit der andauernden Migration nach Italien ist dieses Phänomen nun auch ein europäisches. 6.000 junge Tunesier, so viele wie aus keinem anderen Land, waren nach 2011 in den Krieg nach Syrien und Libyen gezogen. Der Wunsch, sich dem Islamischen Staat oder Milizen anzuschließen, hatte oft finanzielle Gründe.
Seit der Niederlage des IS in Libyen und Syrien bleibt nur noch die Migration nach Europa, um der aktuellen Wirtschaftskrise und der Stagnation in der tunesischen Provinz zu entfliehen.
Nach Recherchen des Radiosenders Mosaique FM hatte sich Brahim Aissaoui aus der Hafenstadt Sfax zusammen mit anderen Migranten per Boot auf den Weg nach Lampedusa gemacht. Am 20. September waren 21 Boote auf der 130 Kilometer von Sfax entfernten italienischen Insel angekommen. Wahrscheinlich machte sich der 21-Jährige dann mithilfe tunesischer Schlepper auf den Weg nach Frankreich.
Kaum Chancen auf Asyl
Fast 10.000 meist junge Tunesier sind in diesem Jahr auf einer ähnlichen Route nach Italien gekommen. Brahim Aissaoui wurde in Bari ein Bescheid übergeben, der ihn zum Verlassen Italiens auf eigene Kosten und innerhalb von sieben Tagen aufforderte. Doch wer sich aus den Hafenstädten Zarzis oder Sfax auf die Reise in den Schengen-Raum macht, weiß: Er wird so gut wie nie Asyl erhalten und sich in der Illegalität mithilfe von Netzwerken, oft Bekannte aus der Heimatstadt, durchschlagen müssen.
Zusammen mit seiner Familie lebte der 21-Jährige zuletzt in der Hafenstadt Sfax. Sein Vater arbeitet als Polizist, seine Mutter kümmert sich um seine neun Geschwister, seit zwei Jahren interessiere sich Brahim für Religion, berichteten die beiden am Freitag angereisten Journalisten.
Den tunesischen Behörden sind keine Straftaten oder radikalen Ansichten von Aissaoui bekannt. Ihre Aussagen gleichen denen der Eltern der anderen Attentäter aufs Wort. Wie sich ihre Söhne anscheinend in kurzer Zeit radikalisiert hatten, blieb ihrem engsten Umfeld offenbar verborgen.
Dass erfolgreiche politische Reformen und die Radikalisierung vieler junger Männer aus marginalisierten Regionen kein Gegensatz sind, liegt an dem starken sozialen Gefälle in der Gesellschaft. Doch statt mit Investitionen die Situation zu verbessern, setzt der tunesische Staat auf Polizeigewalt wie zu Zeiten der Ben Ali Diktatur.
Tausende im Knast
In Tunesien ist selbst das Hochladen von Inhalten radikaler Gruppen strafbar. Tausende junge Männer sitzen in Gefängnissen, weil sie Videos radikaler Gruppen auf ihren Facebookseiten geteilt oder angesehen haben. Das Innenministerium führt nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen mehr als 100.000 Tunesier als Gefährder. Wer unter dem Verdacht steht ein militanter Islamist zu sein, findet keinen Arbeitsplatz und kann keine Wohnung mieten.
Auch Verwandte der Betroffenen erhalten regelmäßig Besuch von den Sicherheitsbehörden. In Gefängnissen radikalisieren sich viele junge Männer, die wegen Bagatelldelikten zu langjährigen Haftstrafen verurteilt sind.
Brahim Aissaoui war zwar nicht als Gefährder eingestuft, jedoch nach Recherchen tunesischer Journalisten einige seiner Freunde. Auch die in Tunesien scharf geführte Debatte über die Mohammed-Karikaturen könnte Brahim Aissaoui radikalisiert haben.
Ein Abgeordneter des tunesischen Parlamentes hatte mit seiner positiven Reaktion auf den Mord an dem Pariser Lehrer Samuel Paty für Empörung gesorgt. Rached Khiari war letztes Jahr für die religiös-radikale Karama-Partei gewählt worden und schrieb auf seiner Facebook Seite, dass die Beleidigung des Boten Gottes das größte aller Verbrechen sei. „Jeder, der dieses Verbrechen begehe, müsse mit Konsequenzen rechnen.“
Die tunesische Regierung verurteilte den Mord an Paty und das Attentat von Nizza scharf. Die Anti-Terror-Behörde ermittelt gegen Aissaoui und verhört derzeit dessen Eltern und eine unbekannte Zahl von Verwandten. Die Wirtschaftskrise durch die Covid-Pandemie wird auch die Gräben in der Gesellschaft weiter vertiefen. Zehn Jahre nach dem Ende der Diktatur steht Tunesien vor den wohl größten Herausforderungen seit der Unabhängigkeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin