Kesseltreiben am Bosporus

Seit über drei Jahren sitzt der Kulturmäzen Osman Kavala unschuldig im Gefängnis. Jetzt will der türkische Präsident auch seiner Kulturorganisation an den Kragen

„GRANDCHILDREN – new geographies of belonging“, 2015 in dem von Anadolu Kültür initiierten Kunstraum Depo, einem ehemaligen Tabakwarenlager im Istanbuler Stadtteil Tophane Foto: Depo

Von Ingo Arend

„Terrorsponsor“, „türkischer Agent dieses ungarischen Juden Soros“, „Putschist“. Recep Tayyip Erdoğan, der regierende Autokrat am Bosporus, war nie um ein Schimpfwort verlegen, wenn es um Osman Kavala ging.

Den Kulturmäzen aus einer vermögenden Istanbuler Fabrikantenfamilie ohne jeden Beweis staatsfeindlicher Umtriebe für mittlerweile gute drei Jahre ins Gefängnis befördert zu haben, scheint Erdoğan nicht mehr zu reichen. Wenn nicht alles täuscht, wollen die türkischen Behörden jetzt auch seine Organisation Anadolu Kültür schließen.

Das türkische Handelsministerium hat dieser Tage eine Klage eingereicht, in der die Auflösung der im Jahr 2002 von Kavala gegründeten Kulturorganisation gefordert wird. Der absurde Vorwurf: Anadolu Kültür sei ursprünglich als Handelsunternehmen registriert gewesen, mache aber keinen Gewinn. So sei die Organisation auf Spenden und Zuschüsse angewiesen.

Den Vorwurf, hinter der Konstruktion von Kavalas Organisation steckten ausländische Kräfte, hatte vor einigen Tagen die regierungsnahe Zeitung Yeni Şafak erhoben. In dem Bericht war Kavala beschuldigt worden, den kommerziellen Status von Anadolu Kültür auszunutzen, um der Aufsicht der Generaldirektion der türkischen Stiftungen zu entgehen.

Nach Yeni Şafak nutzte Osman Kavala seine Firma, um ausländische Spenden „ohne Bereitstellung von Waren oder Dienstleistungen“ von Unternehmen wie der Open Society Foundation, einer mit dem Milliardär George Soros verbundenen Stiftung, in die Türkei zu leiten. Ein Vorwurf, der sich wie das Echo der öffentlichen Vorwürfe Erdoğans liest.

Anadolu Kültür wusste von den Untersuchungen des Handelsministeriums schon seit dem vergangenen Sommer, erklärt Asena Günal, Stellvertreterin Kavalas und Leiterin des Istanbuler Ausstellungszentrums Depo, im Gespräch mit der taz.

Die Organisation habe dem Ministerium Geschäfts- und Finanzberichte der letzten zehn Jahre zur Prüfung übergeben. Um der plötzlichen Medienkampagne die Spitze zu nehmen, habe sich die Organisation entschlossen, die Vorgänge selbst öffentlich zu machen.

„Unser Unternehmen hat seit seiner Gründung im Jahr 2002 alle seine Aktivitäten legal und transparent durchgeführt“, heißt es einer Erklärung vom Wochenbeginn. Die türkische Ermittlungsbehörde für Finanzkriminalität (Masak) habe aber kein Vergehen festgestellt.

„Unsere Anwälte sagen uns, dass dies die erste Anklage in der türkischen Geschichte wegen zu wenig wirtschaftlicher Aktivitäten sein dürfte“, ergänzt Günal sarkastisch. Kein Wunder, dass Anadolu Kültür die Klage als „Fortsetzung der Rechtswidrigkeit“ gegen Osman Kavala wertet, wie es in einer Erklärung vom Wochenbeginn heißt.

Die nächste Verhandlung in der Sache steht am 15. April an. Vorsorglich hat Anadolu Kültür schon mal eine neue Institution unter demselben Namen angemeldet.

Dass das Kesseltreiben abgestimmt sein könnte, demonstrierte der türkische Präsident am Freitag vergangener Woche. In einer Rede nahm er die Steilvorlage von Yeni Şafak auf. Während er Studenten attackierte, die gegen die Ernennung eines AKP-Loyalisten zum neuen Rektor der Istanbuler Boğaziçi-Universität protestierten, beschimpfte er Kavala erneut als „Vertreter von Soros“.

In Anwendung von Sippenhaft schoss sich Erdoğan auch auf Ayşe Buğra ein. Osman Kava­las Frau ist Wirtschaftsprofessorin am Atatürk-Institut für Moder­ne Türkische Geschichte an der Boğaziçi-Uni. Sein Angriff: „Die Frau des Vertreters von Soros ist auch unter den ­Provokateuren da“, trug ihm ­einen Shitstorm in den sozialen Medien ein.

Im Februar vergangenen Jahres wurde der heute 63 Jahre alte Osman Kavala von einem Istanbuler Gericht wegen Verschwörung zum Sturz der Regierung während der Proteste im Gezipark im Jahr 2013 freigesprochen, aber sofort wegen Spionage erneut festgenommen.

Vergangene Woche forderte das US-Außenministerium die Türkei auf, Kavala freizulassen

Anfang dieses Monats lehnte ein türkisches Gericht Kavalas Antrag auf Freilassung ab und kombinierte die beiden Fälle gegen ihn, nachdem ein Berufungsgericht das Gezipark-Urteil aufgehoben hatte.

In einer Erklärung vergangene Woche forderte das US-Außenministerium die Türkei auf, Kavala freizulassen, und wiederholte dabei eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2019.

Kavalas diverse Initiativen zur Unterstützung kultureller Gedächtnisprojekte für Kurden, Armenier, Jesiden und andere Randgruppen in der Türkei haben Anadolu Kültür lange Zeit zu einem Ziel staatlicher Angriffe gemacht.

Im Jahr 2002 gründete Anadolu Kültür außerdem ein Kunstzentrum in der überwiegend kurdischen Stadt Diyarbakır. Darüber hinaus setzte sich Kavala für die Förderung der kulturellen Beziehungen zu Armenien ein und stellte sich gegen die Weigerung der türkischen Regierung, den Völkermord an den Armeniern 1915 zuzugeben.

Nun auch Kavals Organisation zu schließen, ließe sich auch als Zeichen dafür werten, dass der durch die Pandemie und die Wirtschaftskrise unter Druck geratene Autokrat an einem Paradefall demonstriert, wie er die gesamte kritische Zivilgesellschaft massiv einschüchtern will.