Türkische WissenschaftlerInnen im Exil: „Der Druck ließ es nicht mehr zu“

Soziologe Çetin Gürer lebt seit 2016 in Bremen – und stört sich am Kurs der Regierung gegenüber dem Erdoğan-Regime.

Februar 2017: Auf dem Campus der Universität Ankara zerschlägt die Polizei Proteste gegen die Uni-Gleichschaltung Foto: DPA

taz: Herr Gürer, was bedeutet Exil für Ihre Arbeit?

Çetin Gürer: Ach, ich fühle mich ja gar nicht fremd hier: Ich habe in Deutschland studiert, meine Frau ist Deutsche: Deutschland ist meine zweite Heimat. Im Exil fühle ich mich höchstens, weil ich nicht in die Türkei reisen darf – und dort auch nicht mehr arbeiten konnte.

Auch schon an der Nişantaşı University?

Der Druck ließ es nicht mehr zu, frei als Wissenschaftler zu forschen und frei nachzudenken, also, ohne sich selbst zu zensieren.

40, Soziologe, Master an der Uni Hamburg, wurde 2015 in Ankara mit einer Studie über Autonomie-Modelle am Beispiel der kurdischen Selbstverwaltung promoviert, danach Dozent an der Nişantaşı University, seit 2016 als Fellow der Philipp Schwartz Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Uni Bremen

Richtete sich die Repression gegen Ihre politische Haltung oder Ihre wissenschaftliche Arbeit?

Beides. Man kann das nicht voneinander trennen.

Sie haben den Appell der Akademiker für den Frieden unterzeichnet…

Ja, den habe ich unterzeichnet, und deswegen bin ich von meiner Stelle in Istanbul entfernt worden. Ich habe den unterschrieben, weil der Staat in den kurdischen Gebieten eine neue Welle der Gewalt und der Kolonisierung durchgeführt hatte: Die Städte wurden zerstört, die Bevölkerung wurde durch staatliche Sicherheitskräfte ermordet, die Leichen durften nicht begraben werden. Es war ein richtiger Krieg gegen die kurdische Minderheit…

… über deren Status Sie forschen?

Genau. Ich habe über Autonomiemodelle für ethnische Minderheiten in Europa am Beispiel der Kurden promoviert. Für Soziologen und Politologen, die sich für die Lage der Kurden, aber auch allgemein für türkische Politik interessieren, war die Lage also ohnehin schon schlecht.

Nun hat Erdoğan AnhängerInnen in der türkischen Community Deutschlands: Gibt es da Anfeindungen?

Gott sei Dank bislang nicht: Ich werde weder auf der Straße noch über Social-Media-Kanäle beschimpft.

Wächst die Gefahr durch ein Podium wie das heute Abend?

Nein, das ist ja nicht die erste öffentliche Veranstaltung, seit ich nach Deutschland gekommen bin: Bei diesen Veranstaltungen halten die AKP-Anhänger sich eher zurück.

Geht da das deutsche Kalkül auf, durch einen eher zurückhaltenden Umgang mit dem Erdoğan -Regime den Konflikt aus dem Land zu halten… ?

Von wegen! Ich finde diesen Umgang komplett unangemessen: Einerseits ist der Konflikt längst hierher transportiert. Die türkische Gemeinde in Deutschland ist in sich gespalten. Andererseits ist in der Türkei die Rechtsstaatlichkeit völlig außer Kraft gesetzt. Die Verfassung ist beseitigt, Bürgermeister*innen, Journalist*innen, Abgeordnete werden willkürlich weggesperrt. Wie sehr soll Erdoğan die Menschenrechte noch missachten, damit der Westen reagiert? Speziell Deutschland: Dieses wichtige Land lässt sich gefallen, dass die Türkei deutsche StaatsbürgerInnen wie Mesale Tolu, Deniz Yücel oder Peter Steudtner als Geiseln nimmt. Das ist nicht nachvollziehbar. Ein solches Verhalten wirkt wie Komplizenschaft.

Wie hätte es denn reagieren können?

Die Mittel sind nicht sehr vielfältig, das stimmt, aber man könnte schon hier in Deutschland anfangen, bei den Institutionen der Türkei hier im Land, den AKP-nahen Organisationen, den Ditib-Moscheen und der Geheimdienstkooperation, da gibt es doch Möglichkeiten. Das Minimum aber wäre doch, sich zusammenzusetzen, die wachsende Gemeinde der Exilierten zusammen zu rufen, und darüber nachzudenken, was Erdoğan stoppen könnte.

Vortrag von Celal Başlangıç (Journalist und ehemaliger Redaktionsleiter bei Cumhuriyet) mit anschließender Podiumsdiskussion: Dienstag, 24. Oktober, 18 Uhr, Stadtbibliothek Bremen, Wallsaal

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