Türkische Präsidentschaftswahl: Landesvater der Abgehängten
Erdoğans Sieg betont die tiefe Gespaltenheit in der Türkei: In Großstädten und wirtschaftlich starken Gebieten lag die Opposition vorne.
Entlang dem Bosporus und auf der Bağdat Caddesi, der Hauptstraße durch die CHP-Hochburg Kadiköy auf der asiatischen Seite der Stadt, paradierten diese Erdoğan-Ultras. Und es blieb nicht bei den Autokorsos. Schüsse hallten durch die Nacht, wenn auch nur in die Luft, hatten sie doch eine klare Botschaft: Wir haben die Macht und die Waffen.
Kurz zuvor hatte Recep Tayyip Erdoğan, den die meisten seiner Anhänger mittlerweile nur noch „Reis“, den Führer, nennen, eine seiner berüchtigten Balkonreden zu seinem Wahlvolk gehalten. Dieses Mal nicht mehr wie sonst vom Balkon seiner Parteizentrale in Ankara, sondern vor dem Präsidentenpalast auf einem Hügel vor der Hauptstadt. Das Schema seiner Rede entsprach den Balkonreden vorangegangener Wahlen. Zu Beginn gab er den Landesvater, behauptete, sein Sieg sei ein Gewinn für alle TürkInnen, um dann wie im Wahlkampf die Opposition als „von Terroristen gesteuert“ zu denunzieren und deren Toleranz für Mitglieder der LGBTIQ-Community als einen Anschlag auf die Familie zu bezeichnen.
Erdoğan wird das Land weitere fünf Jahre allein regieren, er hat es im 100. Jahr des Bestehens der Türkischen Republik noch ein weiteres Mal geschafft, sich durchzusetzen. Nach offiziellen Angaben des von ihm kontrollierten Wahlrates hat er 52,14 Prozent der abgegebenen Stimmen bekommen, sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu 47,86 Prozent.
Pyrrhussieg
Das genügt als Vorsprung, um eine erneute Debatte über Wahlfälschungen nicht noch einmal aufkommen zu lassen, doch die nackten Zahlen sagen erst einmal wenig darüber aus, was dieser Wahlsieg wert ist. Ein Blick auf die politische Landkarte zeigt, dass Erdoğan lediglich einen Pyrrhussieg eingefahren haben könnte, wie die oppositionelle Zeitung Birgün am Montag titelte.
Die Spaltung des Landes hat sich nach dem ersten Wahlgang am 14. Mai noch einmal vertieft. Die Opposition hat die gesamte Mittelmeer- und Ägäisküste plus die gesamte europäische Türkei gewonnen, dazu aber auch den gesamten Südosten und Osten entlang den Grenzen zum Iran und zu Georgien. Das sind einmal alle Provinzen, in denen die Kurden einen relevanten Anteil an der Bevölkerung stellen, und dann alle Provinzen, die eher nach Westen ausgerichtet sind. Wichtiger aber noch, Erdoğan kann in den urbanen Ballungsgebieten nicht mehr Punkten. Kılıçdaroğlus Vorsprung in den drei größten Städten des Landes, Istanbul, Ankara und Izmir, ist im zweiten Wahlgang noch gewachsen. Mit den Provinzen Ankara und Eskişehir hat die Opposition auch die wirtschaftlich wichtigsten Provinzen in der Landesmitte gewonnen. Der Rest des Landes gehört zwar Erdoğan, aber das ist der eher „abgehängte“ Teil der Türkei.
Dazu passt die Koalition der Parteien, die Erdoğan künftig im Parlament unterstützt. Neben seiner AKP, die mit ihren 35 Prozent bei den Parlamentswahlen am 14. Mai auch längst nicht mehr die früheren Werte von über 40 Prozent erreichte, sind das die rechtsradikale MHP, mit der er schon in den letzten Jahren regiert hat, plus zwei neue islamistische Kleinparteien, die kurdische Hüda Par und die Yeniden Refah Partisi, die vom Sohn des früheren türkischen Islamistenführers Necmettin Erbakan gegründet wurde. Beide Parteien sind explizit frauenfeindlich und haben mit ihren an die afghanischen Taliban erinnernden Forderungen nach einer „traditionellen“ Familienpolitik selbst etliche Frauen innerhalb der AKP sehr verstört.
So ist es kein Wunder, dass die Taliban in der Wahlnacht mit zu den ersten Gratulanten Erdoğans gehörten und ihrer Hoffnung auf weitere gute Zusammenarbeit Ausdruck gaben. Und dass die nächsten Gratulanten dann Wladimir Putin und Viktor Orbán waren – alle noch bevor die Wahl überhaupt ausgezählt war. Als Allererstes aber hatte Erdoğan den Scheich aus Katar, Tamim bin Hamad Al Thani in der Leitung. Als wichtigster Finanzier Erdoğans freute sich der Scheich ganz besonders, dass sich seine Investitionen in den türkischen Präsidenten gelohnt haben. Der Rest der weltweiten Investoren und Bankmanager ist da nicht so erfreut über Erdoğans Wahlsieg. Gingen die Aktien türkischer Banken schon nach dem ersten Wahldurchgang in den Keller, erreicht die türkische Lira am Montagmorgen einen historischen Tiefstand. Für einen Dollar muss man in der Türkei jetzt 20,06 Lira zahlen, der Euro steigt in Richtung 22 Lira.
Erdoğans Antwort auf die Wirtschaftskrise deutete er auch in der Wahlnacht noch an: mehr vom Gleichen. Die Bauwirtschaft war schon immer Erdoğans Konjunkturmotor und daran will er festhalten. Neben dem Wiederaufbau in den Erdbebengebieten, der ja in großen Teilen aus dem Ausland finanziert werden soll, brachte er auch sein Lieblingsprojekt „Kanal Istanbul“, den „zweiten Bosporus“ vom Schwarzen Meer zum Marmarameer wieder zur Sprache. Dieses gigantische Bauprojekt, das aus Katar teilweise vorfinanziert wurde, könnte nun tatsächlich in Gang kommen. Erdoğan setzt dabei auf Geldgeber vom Golf, aus Russland und China. Mit der EU rechnet er dagegen eher nicht. Leuten, die glauben, er würde nun wieder auf die EU zugehen, erklärte er noch in der Wahlnacht, die Freilassung von Gefangenen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seit Langem fordert, komme nicht in Frage. Der ehemalige HDP Vorsitzende Selahattin Demirtaş und der Kulturförderer Osman Kavala bleiben in Haft.
Bei den Verlierern macht sich jetzt erst einmal die große Depression breit. Die Oppositionsallianz wird wohl nicht halten und in der CHP, der größten Partei der Opposition, wird es jetzt erst einmal darum gehen, ob Kılıçdaroğlu den Vorsitz abgeben muss. Dramatischer sind die Reaktionen bei vielen jungen Leuten, die nach der Wahlniederlage alle Hoffnungen aufgegeben haben, dass es in der Türkei in absehbarer Zeit besser werden könnte. „Nur weg von hier“ ist das am weitesten verbreitete Motto.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel