Türkische Offensive in Nordsyrien: Kurden fühlen sich von USA verraten
Die USA wollen keinen Bruch mit Erdoğan und kommentieren seinen Feldzug nicht. Leidtragende in Afrin sind auch viele Zivilisten.
Die kurdischen YPG-Kämpfer leisten heftigen Widerstand, immer wieder müssen sich FSA-Kämpfer zurückziehen, was im türkischen Fernsehen ab und zu gezeigt wird. Schon in den ersten Tagen hat es offenbar viele Tote gegeben. Der türkische Generalstab gibt an, 270 YPG-Kämpfer „eliminiert“ zu haben, was die YPG bestreitet; die Zahl sei „übertrieben“. Auf türkischer Seite sterben vor allem FSA-Kämpfer, weil die Soldaten nur langsam mit ihren Panzern nachrücken. Auf Bildern im türkischen Fernsehen ist zu sehen, wie Dutzende Leopard-II-Panzer im Schlamm geparkt sind und offenbar auf ihren Einsatz warten.
Die türkische Armee und die Regierung haben sich jedoch auf einen längeren Krieg eingestellt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan wies alle Aufforderungen, eine zeitliche Begrenzung zu nennen, empört zurück und erklärte im Gegenteil erst am Mittwoch, dass der Einsatz bald auf die Region Manbidsch östlich von Afrin ausgedehnt werde.
Während die Türkei vom Westen nur sehr zurückhaltend kritisiert wird, fühlen sich die syrischen Kurden von ihren Verbündeten verraten. Sinam Mohammed, eine Sprecherin der PYD/YPG in den USA, sagte, das Schweigen in Washington sei „sehr enttäuschend“. Andere werden noch deutlicher. „Wir haben für die ganze Welt gegen den IS gekämpft“, sagte ein YPG-Vertreter, „jetzt lassen sie uns fallen.“
USA wollen völligen Bruch mit Erdoğan zu vermeiden
Tatsächlich haben die USA bislang deutlich gemacht, dass sie die Region um Afrin als russische Einflusssphäre ansehen, aus der sie sich heraushalten wollen. Ein Pentagon-Sprecher warnte die YPG sogar davor, Nachschub an Kämpfern und Waffen aus den östlichen Kurdengebieten nach Westen zu verlegen, offenbar um die Türkei nicht zu einem Einsatz östlich des Euphrats zu provozieren. Die US-Regierung ist dabei sichtlich bemüht, einen völligen Bruch mit Erdoğan zu vermeiden.
Die Hauptleidtragenden des Feldzugs sind bislang die Zivilisten in Afrin und der benachbarten Provinz Idlib. In Afrin leben nach Schätzungen 400.000 bis 800.000 Menschen, darunter viele Flüchtlinge aus Aleppo. In Idlib sind fast 250.000 Menschen vor den Truppen Baschar al-Assads, die dort von Süden aus angreifen, auf der Flucht. Ihre einzige Möglichkeit war bislang, in Richtung Afrin zu laufen. Dort rückt nun von Norden her die türkische Armee ein.
Die UNO warnt deshalb, dass eine humanitäre Katastrophe bevorsteht, da es für die Flüchtlinge kaum Ausweichmöglichkeiten gibt. Einige sollen wieder nach Aleppo zurückgegangen seien, für andere bauen das Rote Kreuz und der türkische Rote Halbmond in dem von der Türkei kontrollierten Gebiet östlich von Afrin neue Lager auf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden