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Türkei und DeutschlandIn Pragmatismus vereint

Die Türkei steht in Nahost auf der Seite der Palästinenser. Warum Präsident Erdoğan dennoch an einem guten Verhältnis zu Deutschland gelegen ist.

Recep Tayyip Erdogan bei einer AKP-Solidaritätsverantsaltung für Gaza Foto: Efekan Akyuz/Depo Photos/ABACA/imago

Istanbul taz | Die Titelseite der Zeitung Sözcü vom Mittwoch ist exemplarisch für die öffentliche Meinung in der Türkei. Sie zeigt, wie wütende Bürger Kaffee der US-Kette Starbucks und die Brause von Coca-Cola auf die Straße kippen, wie Dollarnoten verbrannt werden und jemand sogar mit einem Vorschlaghammer auf sein iPhone einschlägt. Die Aktionen sind Ausdruck der Proteste gegen Israel und gegen die Unterstützung der USA für das Land.

Dabei ist die kemalistisch-natio­nalistische Sözcü durchaus kein Regierungsblatt. Die Proteste gegen Israels Gegenoffensive im Gazastreifen sind parteiübergreifend und reichen von rechts bis links des politischen Spektrums. Dazu passt auch die Berichterstattung: So wie die deutschen Fernsehsender den Krieg häufig aus israelischer Perspektive zeigen, berichten die in der Türkei vorwiegend aus palästinensischer Sicht.

Entsprechend sind die Kommentare von Präsident Recep Tayyip Erdoğan in den letzten Wochen immer schriller geworden. Erst am Mittwochnachmittag bezeichnete er Israel im Parlament als einen „Terrorstaat“. Die Empörung über das Leiden der palästinensischen Bevölkerung ist enorm und Erdoğan lenkt genau darauf den Blick.

In Deutschland haben viele Menschen wegen Erdoğans Nahost-Haltung gefordert, Bundeskanzler Olaf Scholz hätte den türkischen Präsidenten ausladen müssen. Doch ebenso gibt es in der Türkei viele politische Beobachter, die sich wundern, dass der Präsident nun ausgerechnet ein Land besucht, das an seiner bedingungslosen Unterstützung zu Israel keinen Zweifel aufkommen lassen will.

Vermittler im Ukrainekrieg

Doch so wenig Scholz seinen türkischen Gast ausladen wollte, so wenig denkt dieser daran, den Besuch von sich aus abzusagen. Auf beiden Seiten hat das pragmatische Gründe. So ist bei allen Differenzen zum Nahostkrieg Deutschland doch nach wie vor der wichtigste Partner der Türkei in der EU.

Schon aus wirtschaftlichen Gründen will Erdoğan im türkisch-deutschen Verhältnis keine neuen Verstimmungen aufkommen lassen. Das Land braucht dringend ausländisches Kapital – sein Finanzminister reist derzeit von einer Investorenkonferenz zur nächsten – und das meiste davon kommt nach wie vor aus den EU-Staaten. Auch wenn die Türkei weit davon entfernt ist, dass der Beitrittsprozess mit Brüssel wieder aufgenommen werden könnte, sind doch pragmatische Beziehungen zwischen Ankara und Berlin ein wichtiges Signal für deutsche und andere europäische Investoren.

Hinzu kommt, dass es gerade ja noch einen zweiten großen Großkonflikt gibt: Putins Krieg in der Ukraine. Während Erdoğan als Vermittler in Nahost ausfällt, ist er im Ukrainekrieg nach wie vor eine der ersten Adressen, auf die sowohl die ukrainische als auch die russische Seite zurückgreifen können – sollten sie in Zukunft wieder ins Gespräch kommen wollen. Auch der deutsche Kanzler dürfte darauf hoffen, dass der türkische Staatschef bei etwaigen Verhandlungen zwischen Kyjiw und Moskau hilfreich sein könnte.

Die Hoffnungen von Scholz, mit Erdoğan in absehbarer Zeit ein neues Flüchtlingsabkommen aushandeln zu können, dürften dagegen schwieriger zu realisieren sein.

Da ist erstens die veränderte Stimmung in der Türkei. Die schlimme Wirtschaftskrise hat in großen Teilen der Bevölkerung zu einer immer größeren Ablehnung der schon jetzt rund fünf Millionen Flüchtlinge im Land geführt. Die meisten reagieren deshalb mit großer Verbitterung auf die Vorstellung, die Türkei solle weiterhin den Türsteher für die EU spielen oder ihre Aktivitäten in diese Richtung gar noch verstärken.

Zweitens ist Erdoğan verstimmt, weil der 2016 von Angela Merkel ausgehandelte Deal zwischen der EU und der Türkei für sein Land nicht das gebracht hat, was versprochen worden war. Weder sind die türkischen Bürger einer Visabefreiung für die EU nähergekommen, noch ist die Zollunion im Sinne Ankaras modernisiert worden.

Allein mit ein paar zusätzlichen Milliarden wird der türkische Präsident sicher nicht davon zu überzeugen sein, dass sein Land doch bitte schön in großer Zahl „illegale“ Migranten, die aus der Türkei nach Europa gekommen sind, zurücknehmen soll. Dazu dürften noch etliche Gespräche mehr zwischen Scholz und Erdoğan nötig sein.

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8 Kommentare

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  • Erdogan ist ein Despot mit Sinn fürs Pragmatische. Er weiß, nicht er braucht den Westen, sondern der Westen braucht ihn.



    Ob es um die für die geopolitisch zentrale Lage der Türkei geht, um die Skandinavien-Erweiterung der NATO, die Vermittlung gegenüber Russland beim Getreideabkommen oder seinen Einfluss in Nahost, Erdogan weiß um seinen „Wert“ und deshalb genießt er bei uns auch “Narrenfreiheit”. Er kann sich also noch so einiges leisten und ich vermute, er kennt aber auch seine Grenzen.

  • Nicht zu vergessen: Weil die Türkei derzeit keine Kampfjets von den USA erhält, versucht Erdogan nun an Eurofighter ranzukommen. Die benötigt die Türkei, um u.a. Griechenland und Zypern zu bedrohen und möglicherweise auch eines Tages anzugreifen. Das Risiko ist leider real. Die Argumente, dies könne niemals passieren, sind von ähnlicher Qualität, wie die Behauptung, es sei für Russland irrational in der Ukraine einzumarschieren. Tatsächlich schlägt die Türkei gegenüber ihrem westlichen Nachbarland derzeit einen etwas moderateren Ton an. Jedoch scheint dahinter auch der Wunsch zu stecken, an die Flieger ranzukommen. Es ist offenkundig, dass die vermeintliche Entspannung fragil ist und jederzeit kippen kann. Zudem verfolgt die Türkei weiterhin ihre putinesken Großmachtpläne, rüstet massiv auf und forciert mit aller Kraft den Aufbau ihrer Rüstungsindustrie. Je stärker die Türkei militärisch wird, je selbstsicherer sie sich fühlt, desto größer wird ihre Bereitschaft militärische Abenteuer auszuprobieren und desto gefährlicher wird es im östlichen Mittelmeer. Kampfjets kann die Türkei – noch – nicht bauen und ist daher weiterhin auf Dritte angewiesen. Vom Eurofighter-Konsortium sollen UK und Spanien angeblich schon eingewilligt haben, der Türkei das Flugzeug zu überlassen. Derzeit scheint Deutschland noch der Showstopper zu sein. Somit sollte auch dies ein nicht ganz unwichtiges Thema bei dem Treffen mit Scholz sein. Ob dieser beim deutschen „Nein“ bleibt? Fraglich. Immerhin haben die Deutschen auch kein Problem damit, der Türkei U-Boote zu verkaufen, die ebenfalls dazu dienen, einen Nato- und EU-Partner in die Enge zu treiben.

    • @melly:

      Der Kanzler wird sich im Zweifel darauf zurückziehen können, dass - genau so wie in der deutschen Ukrainepolitik - alle Entscheidungen bezüglich der Beziehungen zur Türkei mit dem “großen Bruder” USA abgestimmt seien. Und so ist es auch.



      Überlegen Sie mal - falls der Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei in der Ägäis eskalieren sollte - , wer da wohl am längeren Hebel sitzt bzw. bedeutsamer für die geostrategischen Interessen der NATO in der Region ist. Ein Blick auf die Landkarte genügt.



      Aber Erdogan ist (wahrscheinlich anders als Putin) pragmatisch und rational genug, das hat er jetzt wieder bezüglich des geplanten NATO-Beitritts Schwedens gezeigt. Was ihn freilich nicht hindert, den Westen genüsslich am Nasenring durch die Manege zu zerren. Dafür wird er von seinen Anhängern in der Türkei ja auch geliebt.

  • Wie gut eine Freundschaft ist, zeigt sich erst, wenn man nicht einer Meinung ist. Wenn man das berücksichtigt, scheinen Deutschland und die Türkei ernsthafte Freunde zu sein. Wir könnten mit diesem Vorbild sogar Brücken in Nahost bauen, wenn wir es denn vernünftig anstellten und Aufrichtigkeit nach innen und außen ausstrahlen. Sich an Verträge nicht zu halten oder die zugesagte Flüchtlingsaufnahme und Visaerleichterungen gar zu vereiteln, geht dabei gar nicht. Es gibt schließlich noch eine türkische Befindlichkeit außerhalb des Präsidentenpalasts, die man nicht immer mit Füßen treten darf.

  • "Die Türkei steht in Nahost auf der Seite der Palästinenser."

    Das ist, wenn ich die Zitate von Herrn Erdogan richtig verstehe, falsch: Er steht nicht auf der Seite der Palästinenser, sondern eindeutig und zweifelsfrei auf der Seite der Hamas.

    Selbst wenn die teilweise vermutete Unterstützung der Hamas durch die palästinensische Bevölkerung, zu der ich mich ausdrücklich nicht äußere, zutrifft, ist es trotzdem furchtbar, nach den Gräueltaten des 07.10. explizit Zustimmung und Wertschätzung für die Hamas zu äußern. Ich stelle gegenwärtig fest, was für ein naiver Mensch ich war/bin, denn ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass solche widerlichen Verbrechen gegen Frauen, Kinder, Alte und sogar Babies in weiten Kreisen auf Zustimmung stoßen.

    • @*Sabine*:

      “Er steht nicht auf der Seite der Palästinenser, sondern eindeutig und zweifelsfrei auf der Seite der Hamas.”



      Sehen Sie, so weit kann Erdogan gehen, ohne vom Westen sanktioniert zu werden.



      Ich muss zugeben, dass auch mich diese eindeutigen öffentlichen Äußerungen Erdogans - in ihrer nicht verhehlten antisemitischen Klarheit - überrascht haben. Aber der Mann weiß, was er sich erlauben kann. Und wir spielen dieses Spiel mit.

  • Europa lässt sich von Erdogan erpressen.

    Wer sich so rassistisch und Wutentbrannt über Israel äußert, sollte ausgeladen werden.



    Zumindest aber sollte endgültig klar gestellt werden, dass ein Land mit solchem "denken" niemals Mitglied der EU sein kann, und die Verhandlungen beendet werden.



    Aber ich fürchte dass man ihn wegen dem Flüchtlingsdeal trotzdem hofieren wird.

  • Unerträglich, dass wir diesem Narzissten wieder und wieder eine Bühne bieten.



    damit machen sich die Bundesregierung, hauptsächlich der Bundeskanzler mit der Haltung Erdogans gemein. Ein Schande ist das.