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Türkei Der Ko-Chef der Oppositionspartei HDP Selahattin Demirtaş sitzt seit November im Gefängnis. Am Donnerstag rief er dazu auf, beim Referendum abzustimmen. Ein Gespräch mit seiner Anwältin„Zermürben und einschüchtern“

Am Donnerstagabend ließ Staatspräsident Erdoğ an wissen, dass, solange er im Amt sei, eine Auslieferung des inhaftierten „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel nicht stattfinden werde.

Am selben Tag rief Selahattin Demirtaş, der Ko-Vorsitzende der linksliberalen Oppositionspartei HDP, in einer Botschaft aus dem Gefängnis alle türkischen Staatsbürger dazu auf, am Sonntag über das Referendum abzustimmen. Nur ein Nein werde zu Frieden, Stabilität und Brüderlichkeit in der Türkei beitragen, aber jede Entscheidung müsse respektiert werden.

Demirtaş betonte, dass der Wahlkampf nicht fair und gleichberechtigt abgelaufen sei. Neben ihm und der zweiten Kovorsitzenden Figen Yüksekdağ wurden 11 weitere Abgeordnete der HDP verhaftet. „Der einzige Grund unserer ­Verhaftung war, zu verhindern, dass wir uns von den Plätzen und den Medien aus ans Volk wenden.“

Am Ende seiner Nachricht hieß es: „Ich hoffe, dass wir uns in der Nacht des Referendums als ein gemeinsames Volk versammeln und nicht unter einem Mann.“

Interview Murat Bay

taz.am wochenende: Frau Acinikli, was wird Selahattin Demirtaş vorgeworfen?

Ayşe Acinikli: Der Prozess wurde in Diyarbakır eröffnet. Die Beschuldigungen reichen von Beleidigung der Türkischen Republik über Beleidigung des türkischen Volkes, der türkischen Nationalversammlung und des Staatspräsidenten bis zur Beleidigung der Streitkräfte und Sicherheitskräfte des Staats. Außerdem werden ihm Propaganda für die PKK vorgeworfen, Volksverhetzung und Aufstachelung der Bevölkerung. Im Rahmen dieser Beschuldigungen gibt es zahlreiche Akten.

Wie ist das juristische Vorgehen einzuordnen?

Das Vorgehen gegen Politiker der HDP hatte von Anfang an keine rechtliche Grundlage. Zu Beginn gab es Diskussionen über die Aufhebung der Im­munität für alle Abgeordneten, am Ende waren ausschließlich HDP-Abgeordnete davon betroffen.

Inwiefern fehlte die rechtliche Grundlage?

Im Strafrecht ist nicht vorgesehen, dass eine Tat, die während ihrer Ausführung keine Straftat war, rückwirkend durch eine neue Gesetzgebung als ­solche deklariert werden kann. Die Grundlage für die Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten sind Prozesse und Ermittlungen aufgrund von Reden, die in einem zurückliegenden Zeitraum gehalten wurden.

Zu Beginn seiner Inhaftierung war Demirtaş neben einer Zelle mit zwei mutmaßlichen IS-Terroristen untergebracht. War das Zufall?

In der Türkei sind solche Situa­tionen nie dem Zufall geschuldet. Der Staat ist dafür verantwortlich, die Gesundheit, Sicherheit und körperliche Unversehrtheit von Gefängnisinsassen zu garantieren. Wer kann garantieren, dass die IS-Terroristen im Fall einer Nachlässigkeit der Gefängniswärter Demirtaş nicht angegriffen hätten? Solche Maßnahmen haben ein ganz klares Ziel: zermürben, verängstigen, einschüchtern. Demirtaş ist selbst Anwalt und hat erfolgreich Schritte eingeleitet, um verlegt zu werden.

Wie sind die derzeitigen Haftbedingungen?

Selahattin Demirtaş erfährt eine gesonderte Behandlung. Eine Zeit lang war er in Isolationshaft. Die Gespräche mit seinen Anwälten wurden anfangs aufgezeichnet. Normalerweise wird das nicht getan und werden solche Aufzeichnungen nicht als Beweismittel genutzt. Auch wenn versucht wird, solche Maßnahmen im Ausnahmezustand mithilfe von Notstandsdekreten zu legitimieren, sind sie unrechtmäßig. Derzeit werden die Gespräche nicht mehr aufgezeichnet. Nachdem er gesundheitliche Probleme überstanden hat, schaffte es Demirtaş, in eine Zelle mit dem HDP-Abgeordneten Abdullah Zeydan verlegt zu werden. Die Verhafteten haben eigentlich das Recht auf Ausgang in einem gemeinschaftlichen Bereich, auf Unterhaltungen mit anderen und auch auf das Betreiben von Sport. Derzeit wird Demirtaş allerdings nur erlaubt, diese Tätigkeiten mit ­Abudallah Zeydan zu unternehmen.

Wie kommuniziert er mit seiner Partei?

Die aktuellen Umstände machen eine Kommunikation nahezu unmöglich. Zum Beispiel hatte Herr Demirtaş eine Rede vorbereitet, die auf einem Treffen der HDP-Fraktion im Parlament vorgelesen werden sollte. Die Rede wurde geschwärzt und an ihn zurückgegeben. Diejenigen, die in der Haftanstalt die eingehenden Briefe überprüfen, streichen Teile des Geschriebenen durch, die sie als schädlich einstufen.

Er bekommt also Post?

Teilweise. Manche Briefe werden nicht ausgehändigt. Auch die Post, die er selbst verschickt, kommt nicht immer an. Trotz allem verfasst Demirtaş wie viele andere inhaftierte Abgeordnete vom Gefängnis aus weiterhin parlamentarische Anfragen, die per Fax an die Parlamentsfraktion geschickt werden.

In letzter Zeit haben zahlreiche politische Gefangene Hungerstreiks begonnen, die auch von Selahattin Demirtaş unterstützt werden. Welche Bedingungen drängen zu einer solchen Entscheidung?

Die Menschenrechtsverletzungen, die es in der Türkei ohnehin schon gab, haben sich mit dem Ausnahmezustand nochmals verschärft. So wurde zum Beispiel das Recht auf Telefonieren und die Besuchszeiten eingeschränkt. Es gibt sogenannte „nackte Durchsuchungen“, bei denen sich die Menschen ausziehen müssen. Es werden Bücher beschlagnahmt, die eigentlich nicht verboten sind. Familienangehörige, die zu Besuch kommen, werden schikaniert. Es passiert, dass jemand, der in Diyarbakır lebt und dort seinen Prozess hat, in ein abgelegenes Gefängnis gebracht wird. So wie im Fall Demirtaş, der in das über 1.600 Kilometer entfernte Edirne gebracht wurde.

Ayse Acinikli

Anwältin, 1986 geboren in Kahramanmaraş. Mitgründerin des Vereins der freiheitlichen Anwälte (ÖHD) in Istanbul, speziell Einsatz gegen Menschenrechtsverletzungen. Saß 2016 in Untersuchungshaft, weil sie kurdische Mandanten vertrat.

Es gibt Berichte, es gäbe Folter in Haftanstalten.

Es gibt Berichte von etlichen Gefangenen, die sich willkürlichen Maßnahmen widersetzen und in der Folge verbale und physische Gewalt zu spüren bekommen. Wir erstatten Strafanzeige, und die Staatsanwälte antworten uns, dass sie aufgrund eine Verordnung nichts tun können. Laut dieser Verordnung können keine Ermittlungen wegen Straftaten von Ordnungsbeamten aufgenommen werden, wenn sich diese Straftaten während des Ausnahmezustands ereignet haben – dazu zählen auch Folter und Mord.

Weshalb beendete Demirtaş selbst seinen Hungerstreik bereits nach einem Tag?

Herr Demirtaş wurde Zeuge und Betroffener solcher Vorfälle, die sich in den Gefängnissen zugetragen haben. Wegen dieser Vorfälle begannen in Edirne und in fast allen anderen Haftanstalten Hungerstreiks. Nachdem die Leitung der Haftanstalt Edirne und das Justizministerium Anfragen ignorierten, haben sich auch Demirtaş und Zeydan dem Hungerstreik angeschlossen. Daraufhin hat die Leitung der Haftanstalt Gespräche akzeptiert. Auch mit dem Justizminister gab es Übereinkünfte. Daraufhin wurde der ursprünglich zeitlich unbegrenzte Hungerstreik in Edirne beendet.

Der Hungerstreik war also erfolgreich?

Man kann die Beendigung des Hungerstreiks auch als ein Zeichen gegenseitigen Wohlwollens interpretieren. Jedoch wird ein zeitlich begrenzter Hungerstreik weiterhin fortgesetzt, etwa in der Haftanstalt Şakran. Die Verbesserung der Haftbedingungen ist nicht die einzige Forderung der Hungerstreikenden. Sie fordern auch, dass das politische und militärische Vorgehen gegen die kurdische Bevölkerung eingestellt und die Isolationshaft für Abdullah ­Öcalan beendet wird.

Im Gefängnis schrieb Demirtaş zwei Kurzgeschichten. Wie verbringt er ansonsten seinen Tag?

Er arbeitet, er malt, liest und spielt seine Bağlama, seine Laute.

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