Tschechische Avantgarde in Berlin: Ein Tanz mit X
Die Ausstellung „Hej rup!“ im Bröhan-Museum zeigt die tschechische Avantgarde der Zwischenkriegszeit. Poesie bekommt dabei viel Raum.
Über einen Bildschirm flackert ein schwarz-weißer Film, in dem eine Frau tanzt, oder man könnte auch formulieren: sehr bedeutungsvoll wirkende gymnastische Verrenkungen macht. Um ihre langbeinige Gestalt herum schieben sich graue, weiße, schwarze Blöcke und Linien, erscheinen immer wieder neue grafische Gebilde. Dazu ertönt eine klangvolle Männerstimme. Spricht hier der Dichter selbst?
Er deklamiert – im tschechischen Original – das Gedicht „Abeceda“ von Vítězslav Nezval, in dem jede Strophe einem Buchstaben des Alphabets gewidmet ist. Was die Tänzerin Milča Mayerová dazu in diesem hundert Jahre alten Experimentalfilm vorführt, ist nichts weniger als die Übertragung des poetischen Prinzips in Bewegung. Damit stellt sie gleichzeitig die vollendete Verkörperung der Prinzipien des Poetismus dar, einer avantgardistischen Strömung, die in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit proklamiert und ausschließlich dort gepflegt wurde.
Zu Recht nimmt der Poetismus breiten Raum ein in einer Sonderausstellung über die tschechische Avantgarde, die derzeit im Bröhan-Museum zu sehen ist.
„Wir geben den Begriff ‚Kunst‘ auf und begreifen das Wort ‚Poesie‘ in seinem ursprünglichen griechischen Sinne: Poiésis, das supreme Schaffen. Die Poesie legt man heute nicht nur in Büchern nieder, man kann mit Farbe, Licht, Ton, Bewegung, mit Leben selbst dichten“, verkündete Karel Teige, seines Zeichens Künstler, Architekt, Kunsttheoretiker und Zentralgestirn der tschechischen Avantgarde. Wie ein Hans-Dampf-in-allen-Gassen scheint Teige auch in der Berliner Ausstellung gleichsam omnipräsent zu sein.
„Hej rup!“, Die Tschechische Avantgarde, Ausstellung im Bröhan-Museum, Berlin bis 3. März 2024
„Kunst“ und „Poesie“
Ungeachtet der gewissen Sonderrolle, die die tschechische Kulturszene und ihr poetistischer Künstlerbund „Devětsil“ im Verhältnis zu den Nachbarländern spielten, waren die tschechoslowakischen KünstlerInnen hervorragend international vernetzt und gestalteten die großen ästhetischen Strömungen der Zeit aktiv mit.
Die Fotografie wurde abseits ihrer rein dokumentarischen Funktion als Gestaltungsmedium entdeckt, Bildkomposition und formale Elemente rückten in den Fokus. In der Ausstellung belegen etwa zahlreiche Fotogramme die Wandlung der Fotografie zum experimentellen künstlerischen Medium.
Suprematismus und Kubismus
In der bildenden Kunst sowie in Architektur und Design schlug sich der Einfluss von Suprematismus und Kubismus eindrucksvoll nieder. Welche Wirkung das kubistische Spiel mit gebrochenen Grundformen in der Möbelgestaltung hatte, wird in der Ausstellung anhand zahlreicher Möbelstücke anschaulich gemacht.
Als am nachhaltigsten sollte sich aber der Kontakt zu den französischen Surrealisten erweisen, mit denen zahlreiche Mitglieder des Devětsil, darunter natürlich Karel Teige, in enger Verbindung standen. Die KünstlerInnen Jindřich Štyrský und Toyen lebten mehrere Jahre in Frankreich, stellten dort aus und wirkten nach ihrer Rückkehr stilbildend für die surrealistische Strömung in der tschechischen Malerei.
Im poetistischen Devětsil allerdings, wo man ja eigentlich dem Kunstbegriff zugunsten einer volksnäher zu begreifenden Definition von lebensdurchdringender Poesie abgeschworen hatte, wurde ansonsten gar nicht mehr ständig gemalt, sondern bevorzugt geklebt: Die Collage war das künstlerische Ausdrucksmittel der Zeit und für surrealistische Inhalte zudem hervorragend geeignet.
Die politisch-gesellschaftliche Dimension der tschechischen Avantgarde kam vor allem im Bereich der Architektur zum Tragen. Karel Teige, der selbst auch ein Zwischenspiel als Dozent am Bauhaus gegeben hatte, stimmte in etlichen Grundsatzfragen keineswegs mit dessen prominenten Protagonisten überein.
Kritik an Walter Gropius
Zum einen stellte er Walter Gropius’ prinzipielles Festhalten am Handwerk infrage, sollte doch seiner Ansicht nach das Augenmerk eher auf die industrielle Fertigung von Gebrauchsgütern gelegt werden. Außerdem kritisierte er viele Bauprojekte zeitgenössischer Architekturstars als elitär und schrieb etwa über Mies van der Rohes berühmte Villa Tugendhat, sie sei „ein Höhepunkt des modernen Snobismus, ein Angeberstück für Millionärskultur, das bei aller formalen Qualität nichts anderes ist, die Neuausgabe eines protzigen Barockpalais“.
Teige selbst entwarf die konkrete Vision eines Hauses mit normierten Mini-Apartments für alle, wobei die funktionalen Bereiche gemeinschaftlich genutzt werden sollten. Durchaus damit verwandt war die Stadt, die der Schuhfabrikant Bat’a für seine Arbeiter in Zlín bauen ließ. Auch diesem pragmatischen gesellschaftlichen Experiment, das sozusagen parallel zu den Ideen der künstlerischen Avantgarde realisiert wurde, ist ein eigener Raum gewidmet, und im Katalog zur Ausstellung wird das Thema noch vertieft.
Das gilt längst nicht für alle Themen, die im Rahmen der Schau selbst nur angerissen werden können. Ein weiterführender Text zu Literatur, Theater und Film fehlt im Katalog ganz – obgleich das Cover sogar aus den von Milča Mayerová getanzten Buchstaben gestaltet wurde.
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