Trend „True Crime“-Formate: Mörder unter uns
Auch Serienmacher haben entdeckt: Verbrechen verkaufen sich gut. Mit prominenter Besetzung startet nun ein weiteres „True Crime“-Format.
Stefan Effenberg hat eine Vorliebe, die viele Deutsche mit ihm teilen dürften: Er lese gerne Krimis, und ganz besonders gerne Biografien über Serienmörder, hat seine Frau Claudia mal im Fernsehen verraten. Er schaue auch „dieses Crime im Fernsehen, wo Mordfälle aufgeklärt werden“. Verbrechen verkaufen sich eben gut, nicht nur im Buchladen, sondern auch in Fernsehen, Radio und Zeitschriften.
Somit dürfte „Protokolle des Bösen“, eine Eigenproduktion des Münchener Pay-TV-Privatsenders A&E Germany, auch zumindest in seiner Anlage das Interesse der Zuschauer wecken. Die Sendung zeigt nachgestellte Gespräche des Profilers Stephan Harbort mit fünf Serienmördern, die darin von den deutschen Filmgrößen Michaela May, Detlef Bothe, Sven Martinek, Uwe Ochsenknecht und Fritz Wepper verkörpert werden.
In zwanzigminütigen Folgen will die Serie herausfinden, „warum Menschen zu Mördern werden“, und verlässt sich dabei auf die wortgetreue Wiedergabe der Interviewsituationen, aufgebrochen lediglich durch Einschätzungen, die Harbort direkt an die Zuschauer richtet.
Der Klassiker
Es ist kein Zufall, dass die kammerspielartige Inszenierung an Romuald Karmakars Kinoerfolg „Der Totmacher“ von 1995 erinnert. Für Emanuel Rotstein, Director Production von A&E Germany, diente der Spielfilm, in dem Götz George den zum Tode verurteilten Serienmörder Fritz Haarmann spielt, als Inspirationsquelle – und damit als Abgrenzungsmerkmal: „Wir inszenieren dicht und ohne Pathos, mit einem starken Fokus auf die Psyche der Täter, ohne sie aus der Verantwortung zu nehmen. Zudem drehen wir auf Spielfilmniveau und sprechen die Bildsprache der großen Leinwand. Alles für das deutsche Fernsehen ein Novum.“
Tatsächlich ist das ambitionierte Projekt stilistisch gelungen, doch ausgerechnet die beschworene Authentizität der Originaltexte funktioniert weniger. Die Darstellungen wirken zu distanziert und theatralisch, ein wirklich emotionaler Zugang zur Gedankenwelt der Straftäter bleibt verschlossen.
Crime-Dokumentation haben im deutschen Fernsehen eine lange Tradition. 1967 begann der Journalist und Moderator Eduard Zimmermann im ZDF mit Hilfe der Zuschauer Verbrechen aufzuklären. „Aktenzeichen XY … ungelöst“ ist bis heute eine der erfolgreichsten Sendungen im deutschen Fernsehen, sowohl was die Zuschauerquote, als auch was die Aufklärungsquote betrifft: Bei einer Auswertung 2007 kam heraus, dass 42 Prozent der in der Sendung diskutierten Kriminalfälle gelöst werden konnten.
Es ist also kein Wunder, dass mittlerweile auch Serienautoren reale Verbrechen für sich entdeckt haben. In sogenannten „True Crime“-Geschichten erzählen sie dokumentationsartig Kriminalfälle nach, die tatsächlich passiert sind. Ein aktuelles Beispiele ist „The Jinx“ (dt. „Der Unglücksbringer: Das Leben und die Tode des Robert Durst“, 2015 bei HBO). Die sechsteilige Doku-Serie erzählt von dem New Yorker Immobilienerben Robert Durst, der binnen zwei Jahrzehnten in drei mysteriöse Mordfälle verwickelt zu sein schien, aber bislang von keinem Gericht belangt werden konnte.
LeserInnen wollen echte Geschichten
Die vieldiskutierte Serie „Making A Murderer“, von Laura Ricciardi und Moira Demos für den Video-on-Demand-Anbieter Netflix, begleitet zehn Jahre lang den spektakulären Fall von Steve Avery, der erwiesenermaßen 18 Jahre unschuldig im Gefängnis saß. Kurz nach seiner Freilassung wurde er erneut festgenommen und auf Grundlage zweifelhafter Indizien für einen neuen Mord zu lebenslanger Haft verurteilt.
„Wahre Verbrechen fassen den Leser stärker an, sie berühren den Leser mehr als fiktionale Geschichten“, erklärt Giuseppe di Grazia, stellvertretender Chefredakteur des Stern und seit einem guten Jahr auch Redaktionsleiter des neuen Titels Stern Crime. Das aufwendig recherchierte und gestaltete Monatsmagazin widmet sich ebenfalls ausschließlich „echten“ Kriminalgeschichten und ihren Hintergründen.
„Der Leser interessiert sich für das, was wirklich geschah, für die Vorgeschichte und die Motive, er interessiert sich für die Menschen, die darin verwickelt sind. Er möchte wissen, warum es zu den Verbrechen kam und wie sie aufgeklärt wurden.“ Mit durchschnittlich rund 80.000 verkauften Exemplaren, darunter mehr als 10.000 Abonnenten, nennt di Grazia sein Magazin eine „wahre Print-Erfolgsgeschichte“. Laut Leseranalyse ist der durchschnittliche Leser des Heftes rund 35 Jahre alt und zu 81 Prozent weiblich.
Weniger als „True Crime“- denn als „True Story“-Format bezeichnet der Radioreporter Wolf Siebert die mit seiner Kollegin Dörthe Nath produzierte Podcast-Reihe „Alles so normal. Warum starben Elias und Mohamed?“ Die sechsteilige Sozial-Reportage lief im Juni dieses Jahres im Radio des RBB und rekonstruierte das Verschwinden der beiden Jungen aus Potsdam und Berlin sowie den Prozess ihres Mörders Silvio S.
„Wir wollten ein Format schaffen, das Hörerinnen und Hörer anspricht, die sich auch für die sozialen, psychologischen, gesellschaftlichen Hintergründe eines Verbrechens interessieren, denn niemand wird als Mörder geboren“, so Siebert. „Psychologische Besonderheiten, familiäre Bedingungen, soziales Umfeld und andere Faktoren können dazu führen, dass aus einem bis zur Tat unauffälligen Menschen ein ‚Täter‘ wird. Diese eminent wichtigen Faktoren kommen aber in der Berichterstattung häufig zu kurz oder gar nicht vor.“
Die Neulinge
Es ist bereits der zweite Kriminalfall, den der RBB mit einem Podcast aufarbeitet. Die Vorarbeit zum Erfolg dieses Formats verdankt der Sender auch der US-Journalistin Sarah Koenig und ihrem im Oktober 2014 gestarteten Podcast „Serial“.
„Protokolle des Bösen“, seit dem 24. September immer um 21.50 Uhr auf A&E Germany
In zwölf Episoden hatte Koenig ihre investigativen Recherchen im Fall der 1999 ermordeten 18-jährigen Schülerin Hae Min Lee und ihres zu lebenslanger Haftstrafe verurteilten Exfreunds Adnan Syed dokumentiert – und damit weltweit ein Millionenpublikum erreicht. „‚Serial‘ war nicht Vorbild, sondern Ermutigung: Ein solches Format kann funktionieren!“, kommentiert Siebert den Einfluss, den das US-Format auf ihre journalistische Arbeit gehabt habe.
Dabei hofft er, dass es in Zukunft möglich ist, auch mit Inhalten abseits von Kriminalfällen ein ähnlich großes Publikum zu finden, was sich im krimiverliebten Deutschland tatsächlich als äußerst schwierig erweisen dürfte. Aber vielleicht gibt es Hoffnung: Stefan Effenberg soll nämlich auch ein Faible fürs Gärtnern haben.
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