Trend „Extreme Phone Pinching“: Drop it like it‘s hot
Jugendliche lassen Smartphones über Abgründen baumeln. Das Video stellen sie online. Alle drehen durch. WTF?!
Die Angst vor dem Fall
„Be careful. Oh my god.“ „Don’t do that!“ „Stop it!“ „Nooooo!“ Wenn Menschen ihre Smartphones über Abgründe halten, rasten alle aus. Doch es müssen gar keine Smartphones sein, keine digitalen Identitätsträger, die in Gefahr gebracht werden.
Es reicht ein Taschentuch. Ein Streichholz. Eine Armbanduhr. Baumeln sie über Abgründen – und sei es mit größtmöglicher Vorsicht fest umklammert von allen fünf Fingern – entwickeln sich menschliche Urängste. Denn alles, was von Schwerkraft angezogen wird und keinen nahen Boden unter sich hat, könnte fallen. Sehr tief fallen. Verschwinden, für immer.
Die Knie werden weich. Schweißtropfen bilden sich auf der Stirn. Vor dem inneren Auge ein langer Fall. Unendlich lang. Der Fachbegriff für die Angst, dass Dinge fallen könnten? Keine Ahnung. Durchsucht man die beinahe unendlich langen Phobie-Listen, findet sich diese Angst nicht (dafür aber Angst vor Knoblauch: Alliumphobie, Angst vor Nasenbluten: Epistaxiophobie und Angst vor Staub: Koniophobie).
Wahrscheinlich, weil die Angst, dass Dinge fallen könnten, sehr nah verbunden ist mit Höhenangst und Flugangst. Heißluftballonfahrt? Niemals! Heiße Luft kann nichts tragen. Bungeejumping? Niemals! Ein Seil kann reißen. Sitzen auf alten Burgmauern? Niemals! Ein Windstoß könnte kommen. Der Mensch ist einfach nicht zum Fliegen da. Und auch Taschentücher, Streichhölzer und Armbanduhren nicht. Und was nicht fliegen soll, das soll auch nicht fallen.
VON PAUL WRUSCH
***
Alles Nomophobiker
Was ist denn plötzlich los mit der ach so autarken Jugend, die sonst doch besonders durch die Beherrschung der Technik auffällt? Kreischen, als ging es aufs Schafott, weil ein winziges Gerät namens Telefon, äh, sorry, Handy, oh Pardon, Smartphone in Gefahr ist. Seid ihr denn völlig närrisch?
Ja, sagen Forscher, das ist nicht gesund. Angeblich gehören die in den Videos demonstrierten Symptome zu einem Krankheitsbild, das nach einer britischen Studie 2008 „Nomophobia“ getauft wurde. Das steht für „No-Mobile-Phone-Phobia“, also die Angst, ohne sein Handy zu sein.
Schon 2012 konnten anhand weiterer Studien ganze 77 Prozent aller Teenager als „nomophob“ eingestuft werden. Wobei auch Erwachsene betroffen sind. Nur würden Ü-25-Jährige vielleicht nicht nur passiv schreien, wenn ihnen das Smartphone entrissen und baumelnd über eine Brüstung gehalten wird. Na ja, vielleicht doch.
Jetzt gibt es auf jeden Fall die Möglichkeit sich selbst auf Nomophobie zu testen. Forscher der Iowa State University entwickelten einen Fragebogen, um denjenigen, die Furcht haben an dieser ominösen Krankheit zu leiden, Klarheit zu geben. 20 Statements gilt es da mit Zahlen von 1 (keine Übereinstimmung) bis 7 (stimmt genau!) zu beantworten. Ein Beispiel: „Ich habe ständig Angst, dass meine Handybatterie leergeht.“ Tja. Wer sich selbst gerade dabei ertappt, wie er mit der Hand nach dem Smartphone greift, um den Batteriestatus zu prüfen: Sorgen machen!
VON TATJANA KENNEDY
***
Dämlich, aber ungefährlich
Dass Jugendliche in hormongesteuerten Phasen auf seltsame oder selten dumme Ideen kommen, liegt in der Natur der Sache. Da hat jeder seine Leichen im Keller. Doch die ständige Verfügbarkeit technischer Möglichkeiten, die heute sicherstellen, dass die Dummheiten festgehalten und für alle Zeiten aufbewahrt werden können, feuern den Hang zu Schnapsideen zusätzlich an.
Eine harmlosere Variante, die vor einiger Zeit das Internet überschwemmte, war „Planking“. Dabei werden Personen fotografiert, während sie mit dem Gesicht nach unten und seitlich angelegten Armen, steif wie ein Brett, auf Gegenständen oder Flächen liegen – bevorzugt an öffentlichen Orten. Sieht so dämlich aus, wie es sich anhört – aber wem’s gefällt, tut ja keinem weh. Man muss dazu sagen: Das hat auch Erwachsene begeistert.
Aber es gibt auch wesentlich gefährlichere Varianten der jugendlichen Suche nach Aufmerksamkeit und Adrenalin, die nun nicht unbedingt für ein Wahlrecht ab 16 sprechen. Etwa das S-Bahn-Surfen oder das Ohnmachtsspiel. Bei diesem „Spiel“ strangulieren sich Teenies so lange selbst, bis sie ohnmächtig werden. Warum? Das weiß kein Mensch – Wikipedia erklärt es mit einem euphorischem Gefühl beim Aufwachen. Extreme Phone Pinching ist außer dumm eigentlich ungefährlich. Nur die Geldbörse der Eltern leidet, wenn das Smartphone doch fällt. In diesem Fall könnte man mal überlegen, ob es in Zukunft nicht auch ein alter Nokia-Riegel tut – oder eine Telefonzelle.
VON SASKIA HÖDL
***
Eine Erweiterung unseres geistigen Selbsts
Der Nervenkitzel des möglichen Smartphone-Verlusts zeigt, wie eng wir mit den Geräten bereits verknüpft sind. Verstehen wir Cyborgs als „Organismen, denen körperfremde Teile hinzugefügt werden, um sich an neue Umwelten anzupassen“, dann sind wir schon welche. Smartphones helfen uns längst, in einer dezentralisierten Welt Platz und Kontakte zu finden. Fährt man U-Bahn, sind die Sitze voll von Menschen, die auf Bildschirme starren. Was vollkommen isoliert aussieht. Doch da wird heftig sozial interagiert: Treffen mit Freunden organisiert, rumgealbert, Mails gelesen.
Die Cyborg-Anthropologin Amber Case sieht das Smartphone als eine Erweiterung unseres geistigen Selbsts. Ein ausgelagerter Speicher. Vor allem aber eine Technologie, die Zeit und Raum falten kann: weil selbst von der einsamsten Bergspitze aus der Kontakt zu unseren Liebsten nur ein paar Fingertipps entfernt ist. Und selbst wenn wir nicht da sind, stehen unsere digitalen Avatare ständig als Ansprechpartner bereit. Alles Verpasste können wir abrufen, wenn es uns passt. Mentale Wurmlöcher in unserer Hosentasche, nennt Case das.
Gerade Jugendlichen bietet das in bislang ungekannter Form Auswege, um die Gleichaltrige in den Neunzigern sie brennend beneidet hätten, als sie gefangen in der Provinz an Dorftankstellen abhingen.
Extreme Phone Pinching ist eine ironische Form der Selbstvergewisserung, wie schmerzhaft es wäre, diese digitale Erweiterung unseres Selbsts zu verlieren. Leben am Limit: Eine winzige Muskelzuckung, und alles wäre weg: Telefonnummern, Chatprotokolle, Filme, Fotos, Mails. Und der Zugriff aufs Internet. Nicht der potenzielle Verlust des Minicomputers ist es, der das zum Nervenkitzel macht. Denn: Wertvoll wird das Gerät erst in Kombination mit allem Ich und Wir, das über Monate und Jahre eingefüttert wurde. Der Stunt ist eine Art geistiges Bungeejumping. Nur billiger. Mit der Gefahr, durch einen einzigen Windstoß mit dem Finger vom Gerät abzugleiten. Und plötzlich isoliert zu sein.
VON MEIKE LAAFF
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja