Traumatherapeutin über Haasenburg: „Das erinnert an die Nazi-Zeit“
Kinder in Not reagieren mit archaischen Schutztechniken, sagt die Therapeutin Michaela Huber. Maßnahmen wie in Haasenburg-Heimen machen alles nur schlimmer.
taz: Frau Huber, eine 14-Jährige wird im Jahr 2008 in einem Heim der Haasenburg GmbH in ihrem Zimmer in Einzelbetreuung gehalten. Sie muss immer klopfen, wenn sie etwas benötigt und sagen, was sie möchte. Wörtlich heißt es in dem Protokoll: „Wenn sie etwas vergisst, soll sie, wie bei vergessenem Teebecher, 10 Liegestütze machen.“ Zeitgemäße Pädagogik?
Michaela Huber: Nein. Nach allem, was ich gelesen habe, kann man hier richtiggehend von schwarzer Pädagogik sprechen. Es erinnert mich an Konzepte, die wir aus alten Nazi-Zeiten noch kennen und das in unseligen DDR-Zeiten fortgesetzt wurde: Bindungsfähigkeit zerstören, Strafen und Sanktionen und Zwangsmaßnahmen, alle müssen sich einem gemeinsamen Willen unterordnen, der ihnen aufgezwungen wird. Das ist nicht nur menschlich unerträglich und moralisch verwerflich. Es ist auch sinnlos, weil es nicht hilft.
Was würde denn helfen?
Sie müssen sich vorstellen, dass es sich hier um Kinder und Jugendliche handelt, die bereits bindungstraumatisiert sind. Das heißt, sie haben zu Hause Verlassenheit erlebt beziehungsweise sie haben erlebt, dass sie seelisch missbraucht wurden, körperlich oder auch sexuell misshandelt wurden. Und wenn diese Kinder in eine solche Umgebung kommen, in der sie nicht beruhigt und achtsam behandelt werden, sondern weiter massiv unter Druck gesetzt werden, empfinden sie das natürlich als Strafe, nicht als eine Chance zu einer Veränderung ihrer Verhaltensweisen, die nach außen vielleicht bizarr wirken.
Welches Verhalten meinen Sie?
Verzweifelte Kinder und Jugendliche gehen immer wieder in Übererregung, also entweder in Panik oder in Wut. Wenn ihnen alles zu viel wird, gehen sie in Erstarrung. Oder sie erschlaffen bei und nach stressreichen Erlebnissen. Das alles sind ganz normale Selbstschutzreaktionen, wie sie auch Tiere in entsprechenden Situationen zeigen.
Zur Person: Huber, Jahrgang 1952, ist Psychotherapeutin, Supervisorin und Ausbilderin in Traumabehandlung. Sie zählt in Deutschland zu den wichtigsten Vertretern der Psychotraumatologie mit Schwerpunkt Dissoziative Persönlichkeitsstörungen und leitet die Deutsche Gesellschaft für Trauma und Dissoziation mit Sitz in Göttingen.
Ihr aktuelles Buch: „Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt“.
Was brauchen diese Kinder?
Man muss mit diesen Kindern und Jugendlichen bindungsorientiert arbeiten. Es ist wichtig, dass man ihnen zuallererst eine Beziehung anbietet. Und zwar von Erwachsenenseite aus. Dem Kind und Jugendlichen Sicherheit und Fürsorglichkeit vermitteln. Um diese Arbeit tun zu können, müsste das Personal traumapädagogisch geschult sein. Die dort Arbeitenden müssten aufmerksam sein für die Folgen von Gewalt. Sehen, wenn die Kinder in Zustände geraten, in denen sie nicht mehr so richtig wissen, was sie tun – und gleich ausrasten werden. Dass sie entweder in die Erstarrung gehen und nichts mehr sagen oder total zusammenbrechen oder sich oder andere angreifen werden.
Das sind, wie gesagt, ganz archaische Selbstschutzmechanismen, die auch Tiere zeigen, wenn sie in höchster Not sind. Wenn man da noch einmal eins obendrauf setzt, indem man das noch verstärkt – die Kinder isoliert, sie festhält, statt mit ihnen achtsam und wertschätzend zu sprechen und umzugehen, sie quält, sie fixiert – dann zeigen die Mitarbeiter, dass sie zu spät reagieren und nur noch auf das Sanktionieren beziehungsweise Beenden des „dysfunktionalen Zustands“ setzen. Ihr Verhalten lässt die Abwärtsspirale dann aber weiterdrehen, und dann kommt es sehr häufig zu schlimmen Re-Traumatisierungen.
Das körperliche Begrenzen verbietet sich in der Jugendhilfe?
Ganz eindeutig. Wir haben gerade eine internationale Tagung zu Arbeit mit Körper und Beziehung bei Frühtraumatisierten gehabt. Die Ergebnisse von Studien haben eine klare Botschaft: Wenn du einen Menschen bessern willst, musst du ihn erst einmal respektieren. Man darf zum Beispiel niemanden festhalten gegen seinen Willen, von sehr seltenen Ausnahmen abgesehen, etwa wenn akute Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt. Man gibt ihnen aber sehr wohl einen Halt.
Körperlich kann Halt bedeuten, eine Hand in den Rücken zum Beispiel, um sie zu bestärken. Man gibt ihnen Sicherheit und ist selbst als Pädagoge achtsam und verlässlich. Jede Pädagogik, die ihren Namen verdient, sollte aber verbunden sein mit Respekt und Achtsamkeit. Zuerst müssen mal zum Beispiel die Erzieher die Grenzen wahren, bevor sie das von den Kindern fordern können. Wie sollen die jemals lernen, die Grenzen wahren zu können gegenüber anderen, wenn die Erzieher sich benehmen wie die Täter?
Das Ziel des Hilfeplans von einem Jugendlichen in einem Haasenburg-Heim lautet Akzeptanz von Regeln und Normen. Ist das zeitgemäß?
Wir brauchen bestimmte Grundvereinbarungen, wie wir miteinander umgehen. Die Grundlage, auf der wir das vermitteln, ist haltgebende Sicherheit. Dann können wir jederzeit auch sagen: Schau, hier ist eine Grenze. Die einzuhalten ist sehr wichtig. Wie kannst du lernen, diese Grenze rechtzeitig zu sehen, damit du sie einhalten kannst? Aber all das, was da auch an Normen existiert, darf auch hinterfragt werden. Ab zwölf kann man sehr deutlich merken, dass Jugendliche es brauchen, dass sie etwas hinterfragen und Normen diskutieren dürfen. Dass die Erwachsenen ihre Entscheidungen auch begründen müssen.
Was halten Sie von dem Verhaltenspunkt: Ich diskutiere nicht?
Was für ein Unsinn. Was für eine antidemokratische Haltung. Diese Art von Pädagogik verhindert, dass Jugendliche ihre Meinung äußern und ohne Gewalt vertreten können. Wenn man Kindern und Jugendlichen das Diskutieren verbietet, macht man sie zu gebrochenen Befehlsempfängern oder zu ständig im Widerstand und in Verzweiflung befindlichen Menschen, die sagen, „sobald ich hier raus bin, mach ich eh, was ich will“. Eine rein äußere Anpassung müssen wir später bei uneinsichtigen Gewalttätern zu erzielen versuchen; aber ein inneres Gebrochensein kann doch nicht das Ziel von Erziehung sein.
Es gibt die These, man müsse Jugendliche brechen, um ihr Verhalten dann neu aufzubauen.
Dazu kann ich nur sagen: Das „Phoenix aus der Asche-“Modell ist out. Ganz und gar. Egal ob in Schulen, Psychiatrien oder anderen Einrichtungen, die mit Menschen arbeiten. Wir wissen heute, dass wir sämtliche Ressourcen der Kinder – überhaupt aller Menschen – lebenslang fördern müssen, wenn wir seelische und körperliche Gesundheit wollen. Wir müssen herausfinden: Was sind deine Stärken? Was kannst du gut? Darauf bauen wir etwas anderes auf – nämlich Selbstwertgefühl und das, was wir Selbstwirksamkeit nennen. Das Kind lernt: Das, was ich tue, ist erfolgreich. Ich mache es gut und richtig. Die Selbstwirksamkeit wird nicht erreicht, indem man das Selbstwertgefühl erst einmal zerstört.
Aus den Unterlagen eines aktuellen Falls geht hervor, dass ein Junge begrenzt wurde, nachdem er „mit Wunschversagen nicht umgehen konnte“ und laut Bericht der Erzieher „fremdaggressiv“ wurde.
Wenn man bei ohnehin schon gequälten und verunsicherten Jugendlichen auch noch dieses sogenannte Wunschversagen macht, dann kann man zwei Dinge auslösen: einen Aggressionsschub oder Depression.
Was muss passieren?
Das Heim muss man zumachen. Da muss ein neuer Geist rein.
Wie schafft man das?
Das Problem vieler solcher Jugendhilfe-Einrichtungen ist erstens der Ungeist aus der Nazizeit – fortgesetzt zum Teil in der DDR. Zweitens dass sie zu wenig Personal haben. Drittens dass es keine angemessene Fachaufsicht gibt. Außerdem haben sie vermutlich keine gute Supervision, die schaut: Was macht ihr denn da? Ihr seid ausgebrannt. Ihr habt dieses „Wir und die da“-Denken entwickelt. Als seid ihr eine andere Kategorie Mensch als eure Schutzbefohlenen. Dann muss auch immer wieder unterstützend eingegriffen werden. Es gibt eine Menge von Modellen der stationären Jugendhilfe in Deutschland, wo das bereits sehr gut läuft. Man muss es nur machen und es braucht eine kompetente Fachaufsicht.
Viele ehemalige Bewohnern sagen, es geht ihnen nicht gut.
Kinder und Jugendliche, die Hoffnung in so eine Einrichtung gesetzt haben und dann derart schlimm behandelt wurden, tragen mit hoher Wahrscheinlichkeit so viele Bindungsschäden davon, dass sie sich dann überhaupt oft erst einmal an niemanden mehr wenden. Dass sie grundsätzlich misstrauisch sind. Oder umgekehrt, dass für manche von ihnen danach jeder sofort der beste Bindungspartner ist, weil sie so hungern nach Zuwendung. Was sie dann brauchen, ist vor allem noch einmal Mut für einen neuen Versuch, sich von Menschen unterstützen zu lassen.
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