Die Unmöglichkeit zu trauern

Über 80.000 Menschen sind in Zusammenhang mit Corona gestorben. Aber wie soll man Abschied nehmen, wenn man einander nicht nah sein darf? Vier Hinterbliebene erzählen

17. Januar 2021, Trauer in Berlin Foto: Omer Messinger

Protokolle von Luise Strothmann
, Manuela Heim
und Marius Ochs

„Du wolltest vielleicht sagen, dass du uns auch lieb hast“

Kerstin Fleischer, 44, Referentin für Hospiz- und Trauerseelsorge, Speyer:

Ein- oder zweimal wurde mir in dieser Zeit der Trauer gesagt: „Na, du weißt ja, wie’s geht.“ Das war schon verletzend. Ich bin im Bistum Speyer Referentin für Hospiz- und Trauerseelsorge. Mein Mann ist Diakon und macht auch Beerdigungen. Im Dezember haben wir beide innerhalb von wenigen Tagen unsere Väter verloren. Obwohl wir diesen professionellen Zugang haben, ist mir wichtig: Wir dürfen auch einfach als Menschen trauern.

Am 11. Dezember haben wir die Nachricht aus dem Seniorenheim bekommen, mein Schwiegervater sei positiv. Er lebte dort nach einem Schlaganfall. Der Herbert hatte Fieber, nach kurzer Zeit schien es ihm besser zu gehen. Dann aber rief eine Schwester an: Er sehe gar nicht gut aus. Wir bekamen die Erlaubnis, ihn zu besuchen.

Ich hatte Sorge, dass ich, wenn ich jetzt dorthin gehe, möglicherweise nicht zu meinem eigenen kranken Vater kann, wenn dort etwas ist. Die Pflegedienstleiterin hat mir dann angeboten, mich alle zwei Tage zu testen, damit ich kommen kann. So ein Geschenk!

Wir hatten Visier, Mundschutz, Kittel und doppelte Handschuhe an und durften eine halbe Stunde bleiben. Als erstes bin ich ans Bett und habe gesagt: „Herbert, wir sehen schon komisch aus, so hast du uns auch noch nicht gesehen.“ Da hat er geschmunzelt.

Wir haben gleich gemerkt, dass es Zeit für einen Sterbesegen ist. Wir haben ihn gesalbt, ihm gedankt und es war klar: Wir nehmen alle Abschied.

Er wollte etwas antworten und konnte nicht. Da habe ich das formuliert: „Du wolltest uns vielleicht sagen, dass du uns auch lieb hast.“ Er hat genickt und unsere Hände fest gedrückt.

Dann kam auch noch die Nachricht, dass mein Vater mit Corona infiziert ist. Er war wegen was anderem im Krankenhaus. Er hatte vielen Baustellen: Diabetes, Fußamputation, das Herz schwach, Aneurysma.

Einen Tag nach der Nachricht, dass mein Vater positiv ist, ist mein Schwiegervater gestorben. Er war 81 Jahre alt. Und wieder einen Tag später musste mein Vater intubiert werden. Im Nachhinein frage ich mich manchmal, wie wir diese Tage geschafft haben.

Um von meinem Vater Abschied zu nehmen, habe ich das erste Mal die Karte ausgespielt, dass ich Seelsorgerin bin. Mein Vater hat als erstes nach Herbert gefragt, und ich musste ihm sagen, dass der gestorben ist. Ich habe gemerkt: Mein Vater möchte leben.

Bei Herbert wollten wir nochmal als Familie Abschied von ihm nehmen. Bei einem Corona-Infizierten ist das nur am geschlossenen Sarg möglich. Wir haben zwei Tage nach seinem Tod eine kleine Feier gemacht, Holzherzen mit Gedanken beschrieben und Gegenstände, die wir mit ihm verbinden, auf den Sarg geklebt. Und wir haben gemeinsam auch die Urne bemalt.

Das war am 19. Dezember und ich ging weiter alle zwei Tage zum Testen. Am 22. war ich negativ und fragte, ob am 24. auch mein Mann und Sohn mit zum Testen kommen könnten wegen Weihnachten. Am 24. Dezember waren wir dann alle positiv.

Ich bekam Gliederschmerzen, mein Mann Markus Husten, Fieber und Schüttelfrost. Ich habe mir wirklich Sorgen um ihn gemacht. Zur gleichen Zeit ging es meinem Vater immer schlechter. Auf der Intensivstation hat er zum Oberarzt gesagt: „Ich möchte nichts mehr. Ich möchte nur noch meine Frau sehen.“ Und der Arzt hat eine Ausnahme gemacht und meine Mutter tatsächlich reingelassen. Noch so ein Geschenk. Sich nicht verabschieden zu können, da muss man nicht drumherumreden: Das ist scheiße. Sechs Stunden danach ist mein Vater gestorben. Er wurde 73 Jahre alt.

„Wahrscheinlich fällt erst nach Corona wirklich auf, wer fehlt“

Ann-Franziska Mai, Studentin, 23 Jahre alt, aus Köln:

Am 23. Dezember hat sich meine Oma infiziert, im Altersheim. Am 24. dann saß ich mit meinem Bruder und Vater vor Skype, alle in Quarantäne, jeder in einem Zimmer, und wir feierten Weihnachten. Es war absurd.

Am 28. ist meine Oma dann ins Krankenhaus gekommen und in der Nacht auf den 31. Dezember gestorben.

Die Beerdigung war drei oder vier Wochen später. Wir überlegten lange, ob wir uns vorher isolieren sollen, damit wir Zeit miteinander verbringen können. Aber keiner hat sich damit sicher gefühlt, weil wir wussten, wie schnell es gehen kann und wie unberechenbar das Virus einfach ist. Man ist in so einem komischen Angstmodus. Es durften nur 15 Leute in die Kirche. Und auch das war komisch, weil die Stühle mit viel Abstand herumstanden. Keiner umarmt sich, also streichelt man sich nur ganz komisch die Arme.

An dem Morgen kam meine Tante ins Krankenhaus. Es hatte sich herausgestellt, dass sie total mit Krebs durchfressen war. Deswegen haben wir gar nicht so wirklich um Oma getrauert und trotzdem alle geweint. Meine Tante hatte sich um meine Oma gekümmert, das war ihre Hauptaufgabe, jahrelang. Die Ärzte meinten, meine Tante muss schon Ewigkeiten Schmerzen gehabt haben. Nach dem Tod meiner Oma hat sich der Krebs bemerkbar gemacht, als wäre jetzt Platz dafür.

Die Beerdigung meiner Tante war ganz anders. Es kam viel plötzlicher, sie war nicht mal 70 und das ist ja heute kein Alter mehr. Sie spielte in der Familie eine wichtige Rolle, war wie ein Sicherheitshafen.

Mein Vater hat mich in der Kirche gefragt, ob ich mit dem Stuhl etwas näher rücken kann. Dann haben wir Händchen gehalten. Was aber trotzdem komisch war, weil man sich Gedanken gemacht hat, ob das sicher ist. Mein Vater gehört zur Risikogruppe. Wir Jüngeren haben uns dann einfach umarmt. Und meinen Vater habe ich in den Arm genommen, mit dem Kopf weggestreckt, die Maske noch vor dem Mund.

Mein Onkel meinte dann: Kommt vorbei, es gibt Kaffee und Kuchen. Aber wir wollten natürlich nicht, dass es zu einer Beerdigungskette wird, aus dem Bedürfnis heraus, sich nahe sein zu wollen. Ich habe gesagt: Es tut mir leid, aber ich traue mich gerade nicht. Ich will nicht das Gefühl haben, ich bin wie ein Todesengel.

Weil es so normal ist, dass man seine Familie gerade nicht sieht, fällt es wahrscheinlich erst nach Corona wirklich auf, wer fehlt. Ich glaube, danach wird das für alle nochmal richtig hart. Man sitzt dann mit der Familie, aber die Tante ist nicht mehr da, und Oma kann man nicht mehr im Altersheim besuchen.

Die Ärztin sagte: „Da ist keine Lunge mehr“

Jeanne Adamowitsch, Kunsttherapeutin, 50 Jahre alt, aus Mönchengladbach:

Mein Vater wohnte in Wizebsk. Die Stadt war von Corona schlimm betroffen, am stärksten in ganz Belarus. Dort wird wenig getestet und es gibt kaum Einschränkungen. Jeder muss sich um sich selbst kümmern. Anfang Dezember dann bekam mein Vater Fieber. Die Hausärztin sagte nur, er soll zu Hause bleiben. Als seine Frau den Notarzt rufen wollte, kam der nicht – es sei schließlich nur Fieber.

Über Bekannte schaffte seine Frau es dann, dass er getestet wurde. Er war positiv. Es ging ihm überhaupt nicht gut und er kam ins Krankenhaus. Er hat Sauerstoff bekommen und wurde schließlich Anfang Januar entlassen – in einem Zustand, in dem er eigentlich kaum gehen konnte. Da habe ich mit ihm telefoniert, es war das letzte Mal, dass wir gesprochen haben. Ich habe schon am Telefon gehört, wie schlecht er Luft bekommt. Aber mein Vater war immer Optimist, er war überzeugt, dass er gesund wird.

Wieder durch Bekannte ist er dann noch mal in eine große Klinik gekommen. Dort sagte die Oberärztin nach einer Computertomografie: „Da ist keine Lunge mehr.“ So einen schweren Fall habe sie noch nicht gesehen.

Für Belarus war das ein sehr gutes Krankenhaus. Er hatte ein eigenes Zimmer mit Dusche und Klo. Er war schon stabil und brauchte keinen Sauerstoff mehr, da hat er sich noch einen Infekt geholt. Dann ging alles ganz schnell. Er kam auf die Intensivstation, sollte wieder an die künstliche Beatmung kommen. Aber er hat den Ärzten gesagt: Ich will selber atmen. Die hatten alle Respekt. Ein Bettnachbar, 36 Jahre alt, war intubiert und ist gestorben, das hat meinen Vater mitgenommen. Er war ja wach und bekam alles mit.

Als ich von meiner Schwester gehört habe, wie schlecht es ihm geht, habe ich sofort einen Brief geschrieben, eine Karte. Für alle Fälle habe ich sie abfotografiert. Er wäre 73 geworden am 1. März. Am 10. Februar ist er gestorben.

Eigentlich wollte ich voriges Jahr nach Belarus und hatte schon Flug­tickets. Aber dann wurden die Grenzen dichtgemacht und alle Flüge gecancelt.

In den letzten Tagen, bevor mein Vater starb, bekam seine Frau eine Sondererlaubnis, sie durfte vormittags und nachmittags für eine Minute zu ihm gehen. In Schutzkleidung, auf eigene Verantwortung. „Schau mal, wie viel Kraft ich habe“, hat er ihr noch gesagt.

Am Freitag meldete das Robert-Koch-Institut 247 neue Todesfälle im Zusammenhang mit dem Coronavirus. Seit Beginn der Pandemie sind insgesamt 80.184 Menschen in Deutschland an oder mit der Virus­infektion gestorben.

Feier

Am Sonntag wird mit einer zentralen Gedenkfeier in Berlin der Covid-19-Toten gedacht. Teilnehmen werden fünf Menschen, die Angehörige verloren haben, sowie die Spitzen der fünf Verfassungsorgane – neben Bundespräsident Steinmeier Bundeskanzlerin Merkel, Bundestagspräsident Schäuble, Bundesratspräsident Haseloff und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Harbarth.

Kerzen

Die Ministerpräsident:innen rufen dazu auf, sich zu beteiligen und am Freitag, Sonnabend und Sonntag abends Kerzen ins Fenster zu stellen.

Um 2 Uhr nachts ist er gestorben. Seine Frau hat es um 7 Uhr erfahren. Mich hat dann meine Schwester angerufen. Ich habe mich krankgemeldet.

In Belarus wird man am nächsten Tag beerdigt. Auch für Trauerfeiern­gibt es kaum Beschränkungen. Papa wurde in einer orthodoxen Kirche aufgebahrt und dort wurden die ganze Nacht Gebete gesprochen und viele Menschen kamen, um sich zu verabschieden.

Ich konnte nicht Abschied nehmen. Meine Schwester habe ich gebeten, dass sie für mich ein paar Fotos macht. Sie sagte mir, zu welcher Zeit sie in der Kirche sein würde, sodass ich hier auch zur selben Zeit in eine Kirche ging.

Den letzten Brief an meinem Vater hat meine Schwester ihm am offenen Sarg vorgelesen und mit ins Grab gelegt. Es war ein gutes Gefühl, dass ihn die Worte noch erreicht haben.

„Es gibt Verwandte, die bis heute leugnen, dass Vater mit Corona starb“

Christiane Zimmer (Name geändert), 35:

Ich kann nur mit angezogener Handbremse erzählen, das muss ich gleich sagen. Ich habe meinen Vater verloren, Ende letzten Jahres. Er war erst Mitte 60. Als mich mein Bruder anrief, wusste ich komischerweise sofort: Es ist etwas mit dem Vati.

Seine Lebenspartnerin hat ihn zu Hause gefunden, er muss schon Stunden tot gewesen sein. Sie war positiv, hatte hohes Fieber, und war ins Bett gegangen. Auch mein Vater hatte starke Symptome. Der Notarzt ging aufgrund der Schilderung davon aus, dass er Corona hatte. Also haben sie ihn nicht einmal angefasst, sondern er wurde in eine Tüte gesteckt und mitgenommen.

Mein Vater gehörte zur Risikogruppe. Ich habe ihn angefleht, dass er aufpassen soll. Mein Vater hatte zwar Respekt vor der Sache, aber er war immer schon mit Verschwörungstheorien unterwegs und hat allen möglichen Sachen aus dem Internet geglaubt. Es gibt Verwandte, die bis heute leugnen, dass mein Vater mit Corona gestorben ist.

Bis zur Beerdigung zogen sich Monate hin und bis zuletzt war nicht klar, wann es möglich sein wird, uns in einem Rahmen zu verabschieden, der für mich und meine Geschwister angemessen ist. Ich bin mehrmals in den Heimatort meines Vaters gefahren. Ich habe im Auto nur geschrien. Ich war so wütend auf meinen Vater, weil er nicht aufgepasst hat, weil er sich doch mit Menschen getroffen hat, weil er es am Ende nicht ernst genommen hat. Ich denke, er wusste, dass er Corona hatte. Aber er wollte es einfach nicht wahrhaben, weil dann hätten die anderen ja doch recht gehabt.

Dann folgte Weihnachten und ich hatte Probleme, das überhaupt zu begreifen. Trauer im Lockdown war superschwierig. Mit kleinen Kindern zu Hause. Man hat keine Möglichkeit, sich mal zurückzuziehen. Mal richtig zu weinen, es rauszulassen. Ich wollte meinen Kindern keine Angst machen.

Irgendwann habe ich mich entschieden, die Trauer und den Schmerz zu teilen. Ich habe Freunde angerufen und gesagt, hey, mein Vati ist gestorben. Ich habe auch über die schlimmen Details geredet, die mich so belasteten. Am Anfang hatte ich deswegen ein schlechtes Gewissen. Aber das hat mir gut getan.