Transformartini-Programm gestartet: Bremens neue Wohlfühlzone
Die Autos sind weg. Sandkasten, Surfwelle und Soireen verwandeln die innerstädtische Martinistraße in einen Ort mit Aufenthaltsqualität.
Sie trägt eine gelbe Warnweste. Und sie weiß ihr Tun gedeckt vom Bundesradverkehrsplan, im Einklang mit dem Bremer Koalitionsvertrag und abgestimmt mit Mobilitätssenatorin Maike Schaefer (Grüne) sowieso. Jetzt lädt auch noch ein Kipplaster einen Berg Mutterboden auf den Teer.
„Jetzt kommt noch mein Lieblingsschild“, sagt Susanne von Essen und pflanzt ein Verkehrszeichen in seine Halterung, „Verbot für Krafträder, Kraftwagen oder mehrspurige Kraftfahrzeuge“. Mit dem anderen Arm rührt sie wild in der Luft: Doch, doch, sie hat durchaus Freude daran, die Automobilist*innen zum Kehrtmachen zu bewegen.
Sie gibt sich unerbittlich, außer, die Chauffeur*innen haben eine Sondergenehmigung vom Amt oder können glaubhaft machen, dass sie hier nicht umdrehen können. Der 24-Tonner mit Kühlfracht zum Beispiel, der nicht mitgekriegt hat, dass hier ab heute autofrei ist. An Tag eins ist Kulanz sicher angebracht.
Vereinzelter Volkszorn
Gestartet ist am Donnerstag das Transformartini-Programm. So heißt die Reihe der Verkehrsversuche, die eine rad- und fußgängerische Rückeroberung der vierspurig ausgebauten Durchfahrtsstraße parallel zur Weser erlaubt. „Ist ja irre“, blökt vom Bürgersteig ein aufgebrachter Jungmann im Nachwuchsbürodress, „Bremen schafft sich ein neues Verkehrschaos!“
Seine Stimme kippt vor Volkszorn. Sonst aber bleibt es ruhig im abklingenden Berufsverkehr. Später wird einmal ein Porscheposer seine ganze Verzweiflung über Tempo 20 in den rechten Fuß schicken, als er obendrein noch an den rotweißen Absperrbaken umdrehen muss. Sein Motor klagt und jault, wie ein getretener Mopsrüde mit Halsweh. Aber auch das ist heilbar.
Die übrigen Daten, also wie die Änderung der Verkehrsführung angenommen wird, wie sich die Last der durchfahrenden Autos auf weitere Stadtteile auswirkt, und welche der vier bis Mitte April 2022 zu erprobenden Alternativen die günstigsten Werte ergibt, muss das Amt für Straßen und Verkehr jetzt erheben.
Ein Rückbau ist beschlossen, aber ob die Martinistraße in beide Richtungen oder nur in eine befahrbar sein sollte, das will man nun messen. Wie die Events, die Angebote und Performances angenommen werden, soll durch Befragungen erhoben werden.
Denn innerhalb weniger Stunden bauen hier, wo die Pieperstraße quert und Schlachte und City-Fußgängerzone miteinander verbindet, Teams von Arbeitern eine innerstädtische Wohlfühlzone auf: eine Surfwelle, die aus einem wasserdichten Plastebecken, aufpumpbarer Schräge und einem Zugang besteht, eine Lounge zum Chillen, ein Sandkasten, plus ein rundes Gartenelement – dafür also war der Mutterboden! – das so platziert ist, dass es auch nach dem 10. August erhalten bleiben kann, wenn die Phase des kompletten Kraftfahrzeugsdurchfahrtsverbots endet und die Martinistraße für Fußgänger wieder teilgesperrt wird.
Vom 24. Juli 2021 bis zum 18. April 2022 ist die sonst vierspurige Martinistraße ein Reallabor für den City-Verkehr.
Ganz in Besitz nehmen können sie Fußgänger*innen und Radler*innen bis 10. August auf dem kurzen Teilstück vom Presseparkhaus bis zur Verkehrsinsel vom Überweg Pieperstraße.
Vom 11. August an soll die Straße bis September in zwei Richtungen auf je einer Spur Autoverkehr führen. Die im Vergleich zum bisherigen Zustand gewonnenen Räume gehen an Passant*innen und Räder.
Zwischen 2. September und 21. November wird eine Einbahnstraße erprobt: Nur vom Tiefer gen Bürgermeister-Smidt-Straße unterwegs dürfen Kraftfahrzeuge dann durchbrausen.
Bis 18. 4. gilt dann wieder: zwei Spuren, zwei Richtungen. Und dann und wann eine Komplettberuhigung für Special Acts
„Wir schaffen Platz für Menschen statt für Blechlawinen“, erklärt Maike Schaefer um 12 Uhr auf dem Martiniplatz, den auch viele Ortskundige wohl noch nie als Platz wahrgenommen haben, die Idee der Maßnahme. Derart verkehrsberuhigt wird die Straße attraktiv auch für kulturelle Veranstaltungen.
Neben Konzerten und Lesungen – den Auftakt machen gleich am Freitagabend Gambistin Aleksandra Maglevanaia und Rezitator Lukas Orphéo Schneider mit einem Lyrik- und Musik-Programm – nutzt auch das Filmfest die Gunst des Versuchszeitraums: Nach seiner coronabedingten Online-Ausgabe macht es nun eine Open-Air-Edition mit Publikum gleich neben dem Schünemann-Haus.
Die Leute finden es spannend: Viele bleiben stehen und knipsen und filmen mit ihren Smartphones, wie sich das triste Asphaltband durch Temporärbauten, ein paar Holzrahmen Sand und Humus in eine Stätte der Begegnung und des Austauschs verwandelt: Einen Erlebnisraum gestalten, das ist der Auftrag, den von Essen hatte.
Alle konkreten Ideen sind von Bremer Bürger*innen bei Befragungen eingebracht worden, lauter man müsste mal-, man könnte mal-Vorstellungen, die ohne die Rahmenbedingungen eines Versuchs nur spinnerte Wünsche bleiben würden, ohne Aussicht auf Realisierung. Und wenn sie es wären, durch die die Stadt eine Zukunft hätte? „Wir wollen die City beleben, deshalb gibt es diese tollen Aktionen“, sagt Schaefer.
Das sei auch der Grund, weshalb es nicht nur zwei, drei Tage dauere, wie der Handelskammer offenbar vorgeschwebt war: „Wenn hier so eine Surfwelle aufgebaut wird, dann muss sich das ja auch lohnen“, erklärt Schaefer. „Das muss sich rumsprechen und es müssen auch ein paar Leute die Gelegenheit bekommen, das wahrzunehmen.“ Mehr als 70 Menschen pro Tag kann die Anlage nicht bewältigen, die Slots von je einer Stunde sind im Voraus zu buchen.
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