Tradition des Widerstands in Frankreich: Was Ludwig XVI. Macron lehren kann
Die Protestkultur der Franzosen reicht Jahrhunderte zurück. Die Lektion für Könige und Präsidenten lautet: Legt euch nicht mit dem Volk an.
Einige Parallelen zeigen sich heute zur Lage des unbeliebten Staatspräsidenten Emmanuel Macron, dem Kritiker vorwerfen, ein „Freund der Reichen“ zu sein. Zwar hat die Demokratie die Monarchie abgelöst, aber an der Protestkultur der Bevölkerung auf den Straßen von Paris hat sich nur wenig geändert.
Der ehemalige Banker Macron zog den Unmut der Franzosen auf sich, als er im vergangenen Jahr eine Vermögenssteuer abschaffte und eine Erhöhung der Kraftstoffsteuer vorschlug. Nach Ansicht der Demonstranten würden höhere Benzinpreise vor allem die Ärmsten treffen.
Aus Widerstand gegen die Energiesteuer kam es in Paris zu den heftigsten Unruhen seit Jahrzehnten. Die Gruppe der „Gelbwesten“ plünderte Geschäfte in Nobelvierteln rund um die Champs-Élysées und zündete Autos an. Graffiti lautete: „Macron=Ludwig 16“. Hunderte Menschen wurden bei den Protesten in den vergangenen Wochen verletzt und vier getötet.
Der französische Präsident gab nach. Am Mittwoch sagte er die geplante Steuererhöhung ab, sein Image des unerschütterlichen Anführers ist seitdem schwer angeschlagen.
Revolution als Gründungsmoment
„Wenn die Menschen Macron mit Ludwig XVI. vergleichen, ist das eine Warnung, dass er die Lektion der Geschichte nicht gelernt hat“, sagt der Soziologe Michel Wieviorka. „Sie wollen nicht im wahrsten Sinne des Wortes seinen Kopf, aber es ist eine starke Botschaft, dass sie nicht das Gefühl haben, gehört zu werden.“
Macron konnte die Demonstranten mit seinen Zugeständnissen nicht besänftigen. Sie wollen mehr. Angesichts stagnierender Löhne und einer Frustration über die französischen Steuern, die zu den höchsten in Europa gehören, fordern die „Gelbwesten“ nun den Sturz der Regierung. Für das Wochenende planen sie weitere Protestaktionen.
Widerstand ist schlicht deshalb ein wiederkehrender Teil der französischen Geschichte, weil er so häufig erfolgreich war. Selbst das Stadtbild von Paris wurde angelegt, um nach den Revolutionen des 19. Jahrhunderts, die Monarchen gestürzt hatten, neue Massenproteste zu verhindern.
„Der Gründungsmoment der politischen Geschichte Frankreichs war die Revolution“, erklärt Wieviorka. „Seitdem kommuniziert das französische Volk durch Protest direkt mit den Mächtigen, wenn auch nicht unbedingt auf so blutige Weise.“
Ständige Revolten
Vor 50 Jahren errichteten Studenten der Sorbonne-Universität Barrikaden, um gegen den Status quo zu protestieren. Die Gewalt, mit der die Behörden 1968 vorgingen, brachte französische Arbeiter auf die Straße. Unter dem Druck des wachsenden Widerstands von neun Millionen Menschen knickte die Regierung schließlich ein.
Der Aufstand führte zu einem Anstieg des Mindestlohns um 35 Prozent und Gehaltssteigerungen von zehn Prozent. Und er untergrub die Legitimität von Präsident Charles de Gaulle, der im Jahr darauf zurücktrat.
Erneute Massendemonstrationen brachten 1986 eine geplante Hochschulreform zu Fall, 1995 lief es ähnlich mit einer Rentenreform und 2006 mit einer vorgesehenen Senkung der Tariflöhne für Berufseinsteiger.
Wegen der Revolutionen von 1830 und 1848 und zahlloser Aufstände ist der Protest unauslöschlicher Bestandteil der französischen Psyche. Schriftsteller Victor Hugo machte die Tumulte nach der Revolution 1830 in seinem Roman „Les Misérables“ („Die Elenden“) unsterblich. Der Klassiker der französischen Literatur ging später auch als Musicalerfolg um die Welt.
Stadtplanung gegen Protest
Aus Angst vor solchen Protesten ließ Napoleon III. später den Stadtplaner Baron Haussmann die notorisch engen Straßen von Paris umgestalten. Die neuen breiten und leicht zugänglichen Boulevards von 1853 brachten die moderne französische Hauptstadt hervor. Die sternenförmig angeordneten Prachtstraßen sollten die Errichtung von Barrikaden verhindern, die Soldaten zuvor den Zugang zu Demonstranten versperrt hatten.
„Zum Teil können die großen, zusammenlaufenden Boulevards weitere Proteste verhindern“, sagt Wieviorka mit Blick auf Orte wie den Place de l'Étoile, auf dem der Triumphbogen steht.
Doch die an Protesten reiche Geschichte des Landes hat alle Versuche überstanden, Aufstände zu vereiteln. Das haben auch die „Gelbwesten“ gezeigt, die nun die Champs-Élysées auseinandernahmen: Sie stellten noch immer Barrikaden auf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Sicherheitsleck in der JVA Burg
Sensibler Lageplan kursierte unter Gefangenen