Tourismus in Schleswig-Holstein: Ostsee, altes Haus!
Mittelfristig können die Ferienorte an Schleswig-Holsteins Ostseeküste von Badegästen allein nicht leben. Eine Erkundung in Holnis, Scharbeutz, Eckernförde und Damp 2000.
HAMBURG taz | Schleswig-Holstein als Feriendorf, davon träumt Reinhard Meyer. „Die Ganzjahresdestination“, sagt der SPD-Minister für Wirtschaft und Tourismus, müsse das Ziel sein, nur so seien Investitionen, Wirtschaftlichkeit und Arbeitsplätze zu sichern: Ein Bundesland als Ferienpark zwischen zwei Meeren, im Hochsommer prall gefüllt mit Familien mit Kindern, in der Nebensaison voller Best Ager und anspruchsvoller Genießer, denen der Sinn nach Wellness und Sushi steht. Doch wer will noch da leben, wo andere Urlaub machen, wer kann sich das noch leisten?
Der Strukturwandel ist vor allem an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste in vollem Gange, insbesondere die Lübecker Bucht, traditionell der Deutschen liebste Badewanne, rüstet auf. „Scharbeutz war der Trendsetter“, sagt Katja Lauritzen, Geschäftsführerin des Ostsee-Holstein-Tourismus e.V.. Der Ort hat mit Millioneninvestitionen den Sprung vom trutschigen Familienbad der Wirtschaftswunderjahre zur trubeligen Erlebnis-Destination geschafft.
Die 2011 eröffnete Dünenmeile ist Vorbild für viele andere Ostseebäder: sechs Kilometer Strandpromenade für Fußgänger, Radfahrer und Skater voller Trimm-dich-Geräte, Sitzecken, Aussichtspunkte und Cafés sowie einem Hummer-Restaurant und zwei Vier-Sterne-Hotels, ein drittes wird ab Herbst errichtet.
Erlebnis-Seebrücke und Aktiv-Bad
Das benachbarte Timmendorfer Strand, einst selbsternanntes „Nizza des Nordens“, versucht den Anschluss zu halten; in Heiligenhafen hat die Stadt 30 Millionen Euro in eine 400 Meter lange Erlebnis-Seebrücke und den Umbau des betagten Schwimmbades zu einem Aktiv-Bad mit Spa- und Saunalandschaft gesteckt; in Travemünde errichtet ein dänischer Investor für etwa 130 Millionen Euro mit den Waterfront-Appartements das größte touristische Einzelprojekt im ganzen Land, das die Übernachtungszahlen im zu Lübeck gehörenden Ostseebad von jährlich gut 300.000 Menschen verdoppeln dürfte.
Als Höhepunkt an Kreativ-Marketing kann die Neuerfindung der 1970er-Jahre-Bettenburg Damp 2000 gelten. Aus den bis zu 14-stöckigen Betonkolossen am Strand, die trotz der blau, gelb und grün angemalten Balkone den Hochhäusern in Hamburger sozialen Brennpunkten wie Steilshoop oder Osdorfer Born verblüffend ähneln, soll ein Wikingerdorf werden.
Cocktail-Lounge namens Hammaburg
Seit einem halben Jahr firmiert die Anlage, die mehr als 400.000 Gäste pro Jahr verdauen kann, als „Klein Heddeby“. Aus dem Schwimmbad wurde ein „Entdeckerbad“, es gibt einen Thingplatz, eine Cocktail-Lounge namens Hammaburg (obwohl Hamburg mit den Wikingern außer ein, zwei Überfällen nicht viel zu schaffen hatte) und, weil die Wikinger ja Amerika entdeckten und es Vinland nannten, „Vin’s Diner“ – mit Hamburgern, versteht sich.
Und im Sichtschatten der Wohnblöcke wurde eine Ferienhaus-Siedlung im skandinavischen Stil neu errichtet. „Das ist unser Premiumprodukt, das schon sehr gut am Markt etabliert ist“, sagt „Rooms Divison Manager“ Thorben Mangold. Es sei „der notwendige Modernisierungsschub, um den Charme der 70er-Jahre zu überwinden“, sagt Minister Meyer.
Das versucht auch das kleine Holnis an der Flensburger Förde. Weil die Dauercamper aussterben, wurde ein Teil des Campingplatzes zu einem Design-Hotel aufgewertet. Und in Eckernförde sorgen der Bau einer Hafencity und die Besuche von Kreuzfahrtschiffen, die auf ihrem Ostsee-Törn die Kleinstadt als Ziel entdeckt haben, für politische Verwicklungen, die vermutlich in einem Bürgerentscheid geklärt werden müssen.
Konkurrent Mecklenburg-Vorpommern
2006 hatte die Unternehmensberatung Roland Berger eine Tourismusanalyse für Schleswig-Holstein erstellt. Das Land sei weit hinter Mecklenburg-Vorpommern zurückgefallen, das seine Ostseeküste mit Milliarden aus dem Aufbau Ost aufgeschickt hatte.
Außer fast naturbelassenen Stränden gab es dort wenige Jahre nach der Wiedervereinigung in grundüberholten Seebädern aus der Kaiserzeit auf Rügen und Usedom und in Orten wie Boltenhagen, Kühlungsborn oder Warnemünde den neuesten Komfort und Standard für deutlich weniger Geld als zwischen Travemünde und Glücksburg.
Bis zu 500 Millionen Euro jährlich verlor das Land an Nord- und Ostsee an die neuen Konkurrenz im Osten, stellte die Studie fest. Und empfahl eine neue Tourismusstrategie, die auf Familien mit Kindern, auf Natururlauber und auf „Entschleuniger“ zielt: Komfort, Service, Luxus, Gesundheit und Genuss sollten fortan zusammen gedacht werden.
Und so geschah es: Unter dem Slogan „Der echte Norden“ begann das nördlichste Bundesland sich neu zu erfinden. Und setzt bewusst auch auf die Nebensaison – ein ganzes Jahr Schleswig-Holstein ist das Ziel. Der Weg dahin hat zwei Konsequenzen: In Scharbeutz zum Beispiel stiegen die Übernachtungen zwischen 2013 und 2014 um 16,2 Prozent, die Immobilienpreise um 22 Prozent. Nicht mehr jeder, auch das gehört zum neuen Norden, kann es sich leisten, da zu wohnen, wo andere Urlaub machen.
Den kompletten Schwerpunkt zum Thema „Tourismus an der Ostsee in Schleswig-Holstein“ finden Sie in der gedruckten Wochenend-taz.nord oder hier.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour