Todesfall im Frankfurter Hauptbahnhof: Direkt ins Herz
In Frankfurt wurde ein Kind vor den Zug gestoßen. Die Tat ist auch deshalb so schrecklich, weil wir erkennen und begreifen, dass sie nicht uns getroffen hat.
J edeR kennt dieses klamme, bange Gefühl. Ein Porsche, der mit Lichthupe und 230 Sachen von hinten herangerast kommt. Der verwirrte Mann, der aggressiv schreiend durchs Stadtbild läuft, scheinbar auf der Suche nach einem leichten Opfer. Zugedröhnte Jugendliche in der U-Bahn, die sich provozierend laut über die Fuckability von Mitreisenden austauschen. Es sind Momente, in denen man an ein Wunder glauben möchte, dass diese Gesellschaft trotz all dem Stress, der Verachtung und ja, dem Hass, funktioniert. Dass wir uns nach wie vor und unumstößlich aufgehoben fühlen können in einer Gemeinschaft der Besonnenen.
In Frankfurt hat ein Mann ein Kind getötet. Er hat versucht, auch andere umzubringen, darunter die Mutter. Die Tat ist unter anderem deshalb so schrecklich, weil sie die dünner werdende Haut unserer Angst ritzt. Weil wir erkennen und begreifen, dass sie nicht uns getroffen hat. Unsere Lieben, unser Kind. Uns.
Davongekommen – so fühlt sich das an. Obwohl wir wissen, dass es statistisch extrem unwahrscheinlich ist, selbst Opfer einer solchen Tat zu werden: In derlei Momenten hebt die so tapfer wie mühsam ruhig gehaltene Angst ihr schläfriges Lid und starrt uns direkt ins Herz. Die traurige Wahrheit ist: Das acht Jahre alte Kind am Gleis ist nicht davongekommen. Es ist gestorben.
Schreckliche Ereignisse wie dieses sind ein Anlass, mal wieder zu schauen, wie es dem Sitznachbarn im Bus geht, sich zu fragen, ob der Obdachlose ein Gespräch nötiger hat als den täglichen Euro, ob die Rentnerin nebenan unsere Hilfe braucht. Das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die für uns einsteht, stellt sich nur dort ein, wo auch wir für sie einstehen.
All der Hass, die Verachtung und das schnelle Urteil füttern nur die Angst. Dem raschen Reflex zu widerstehen, dem hasserfüllten Kopf-ab-Gefasel der Eskalierer – das ist jetzt die Aufgabe. Diese Gesellschaft, dieses Land sollte sich die Fähigkeit nicht nehmen lassen, Vertrauen zu wagen, immer wieder aufs Neue. Alles andere lähmt uns.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind