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Titelessay von Harald Welzer Wohnzimmer der Gesellschaft

Demokratie, Zusammengehörigkeit und Solidarität müssen analog gelebt werden können. Deshalb braucht es multifunktionale Orte des Gemeinsamen. Das Editorial zur neuen taz FUTURZWEI.

Eine Blaupause für das Wohnzimmer der Gesellschaft? Die Bibliothek „Oodi“ in Helsinki versammelt diverse Formen des Beisammenseins Foto: wikimedia commons CC BY 4.0

taz FUTURZWEI | Er nervt. Nämlich der dümmliche Luxus, mit dem kritische Zeitgenossinnen und -genossen immer noch unterwegs sind, um im Echoraum der Empörungskultur ihre Bedenken zum Ausdruck zu bringen.

Den Vogel zum letzten Heft hat ein Dr. W., firmierend als Publizist/Politologe, abgeschossen: Er erkannte in unserem Titelbild zu den Zahlen des Grauens „die jüdische Nase, krumm und groß, wie einst in der Nazi-Propaganda. Und dazu irgendwas mit Geld“. Das fand er „widerlich“ und bat um umgehenden Rapport, welche Maßnahmen wir gegen uns nun zu ergreifen gedächten. Leider, verehrter empörungsbereiter Dr. W., handelte es sich bei der abgebildeten Figur um eine satirische Annäherung an Graf Zahl, bekannt aus der Sesamstraße und bisher des Antisemitismus völlig unverdächtig.

Bild: Jens Steingaesser
Harald Welzer

Harald Welzer, Jahrgang 1958, ist Sozialpsychologe und Mitherausgeber des Magazins für Zukunft und Politik taz FUTURZWEI.

Wer einen Hammer hat, dem sieht alles wie ein Nagel aus. Und wenn wir heute von der Verengung von Diskursräumen sprechen, dann geht die nicht zuletzt auf die Empörungsprofis zurück, die irgendwann aus den sogenannten sozialen Netzwerken gekrabbelt sind und die analoge Welt zu bevölkern begannen. Inzwischen finden sie chamäleoneske Gestalt in Markus Söder, Jan Böhmermann, Wolfram Weimer und allen weniger prominenten Versionen von Dr. W., übrigens in allen denkbaren Gendern. Und sie nerven alle.

Denn sie sind ja selbst Produkte der Veränderung der kommunikativen Landschaft durch absichtsvoll programmierte soziale Netzwerke, die ihre Benutzer, wie Jaron Lanier schon vor einem Jahrzehnt sagte, zu Arschlöchern machen.

Moralische Empörung als intellektuelles Leitbild

Wie Richard David Precht und ich in unserem Buch Die vierte Gewalt herausgearbeitet haben, führte die Irritation der etablierten medialen Geschäftsmodelle durch die Direktmedien nicht etwa zu deren Besinnung auf Faktoren, die ihre Qualität sicherstellen, sondern auf eine Übernahme der Klamaukpraktiken aus den Direktmedien: Skandalisierung, Personalisierung und Dekontextualisierung.

An die Stelle von Inhalten trat die moralisch grundierte Bewertung ihrer Urheber, und das Motto „Der (oder die) geht ja gar nicht!“ wurde zum intellektuellen Leitbild der medialen wie der politischen Klasse.

Da Dummheit infektiös ist, hat das zu einer immer noch wachsenden Entkoppelung der etablierten Politik und der Leitmedien von der Lebenswelt der Mehrheitsbevölkerung geführt, die von den allgegenwärtigen Spaltungs- und Bubble­behauptungen gar nicht beeindruckt sind, ja, sich nicht einmal gespalten und gebubbelt fühlen.

„Die Leute bleiben vernünftig und klug.“

Das zeigt sich etwa in den 85 Prozent treu und brav verfassungstreue Parteien wählenden Menschen bei der Kommunalwahl in NRW. Die allermeisten Menschen gehen im Alltag freundlich miteinander um, üben zu mehr als 40 Prozent Ehrenämter in Hospizen oder Sportvereinen aus, halten den ganzen Laden am Laufen und glauben trotz aller Hysterisierung noch nicht einmal an den baldigen Untergang des Abendlandes.

Da können Merz, Söder, Klingbeil, Welt, Bild und FAZ noch so exzessiv Keile zwischen die „Fleißigen“ und die „Schmarotzer“ zu treiben versuchen und die Stadtbilder von allem säubern wollen, was nicht nach weißen Oktoberfestbesuchern aussieht – die Leute bleiben vernünftig und klug. Daher sind sie: die wichtigste Ressource für die Demokratie und die freiheitliche Ordnung.

„Wohnzimmer der Gesellschaft“ sind analoge Vergemeinschaftungen

Als Fachblatt für Demokratie und freiheitliche Ordnung sucht taz FUTURZWEI nach Formen der analogen Vergemeinschaftung, etwa in Form von „Wohnzimmern der Gesellschaft“.

Die neue taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°35: Wohnzimmer der Gesellschaft

Jetzt im taz Shop bestellen

Demokratie braucht Orte des Gemeinsamen, Wohnzimmer der Gesellschaft. Die damit verbundenen positiven Gefühle konstituieren Heimat. Mit jeder geschlossenen Kneipe, leerstehenden Schule, verödenden Ortsmitte geht das Gefühl des Gemeinsamen, geht Heimat verloren. Das ist ein zentraler Zusammenhang mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus.

Mit: Aladin El-Mafaalani, Melika Foroutan, Arno Frank, Ruth Fuentes, Maja Göpel, Stephan Grünewald, Wolf Lotter, Luisa Neubauer, Jana Sophia Nolle, Paulina Unfried, Nora Zabel und Harald Welzer.

So nennen die Finnen die Bibliothek Oodi in ihrer Hauptstadt Helsinki. Das ist ein Ort, in dem man nicht nur Bücher ausleihen, sondern kochen, Videos drehen, Dinge reparieren, Musik machen und sich ohne jeden Anlass treffen kann. Am Eingang weist ein Schild auf die Funktion: „Jeder hat das Recht, in der Bibliothek zu sein. Herumhängen ist erlaubt, ja sogar erwünscht. Rassismus und Diskriminierung haben in dieser Bibliothek keinen Platz. Oodi ist unser gemeinsames Wohnzimmer.“

Besser kann man die Bedeutung eines gemeinsamen Ortes für die Stadtgesellschaft und für die Demokratie nicht formulieren: Das ist unser gemeinsames Wohnzimmer. Wenn das jede Stadt, jede Gemeinde hätte, könnte man sich die ganzen gut gemeinten Demokratie-Programme sparen.

Denn Demokratie muss, wie Vertrauen, wie Zusammengehörigkeit, wie Solidarität, analog gelebt werden, und deshalb braucht sie analoge Orte der Begegnung.

„Oodi“ als Prinzip

Oodi ist ein großes Beispiel, das in unterschiedlichsten Formaten überall nachgeahmt werden könnte. Und vieles gibt es ja schon: Volkshochschulen, Kirchen, Gemeindehäuser, vielleicht auch Kantinen oder Foyers von Rathäusern und Verwaltungen und viele Räume in privatem Besitz sind vorhandene Orte für analoge Begegnungen.

Man muss ihnen nur ihre exklusiven Nutzungsbestimmungen abtrainieren und sie öffnen als multifunktionale Begegnungsorte – das ist eine analoge Strategie gegen die Zerstörung des Sozialen und damit eine Stärkung der Demokratie.

Wir machen dieses Heft als Ausgangspunkt, um die Aufmerksamkeit auf die vorhandenen Ressourcen der Demokratie zu richten, die sich in den vernünftigen, klugen Menschen verkörpern, die diese Gesellschaft ausmachen, stützen und bewahren.

„Man muss den vernünftigen und klugen Menschen nur die Räume bereitstellen, in denen sie analog reden, debattieren, Pläne machen, streiten oder einig sein können.“

Es wäre ja doch sehr schön, wenn auch die Politik und die Medien ihre Aufmerksamkeit zur Abwechselung mal von den Deppen zu den Klugen wenden und zu staunen beginnen würden, wenn sie zur Kenntnis nähmen, wie stark die Fundamente der Demokratie bei uns sind – trotz Polykrise und Dauererregung.

All eyes on the people. Man muss den vernünftigen und klugen Menschen nur die Räume bereitstellen, in denen sie analog reden, debattieren, Pläne machen, streiten oder einig sein können. Und sich gut fühlen können, weil sie sich vergewissern, Teil einer gemeinsamen Wirklichkeit zu sein.

Wir haben ein Portal geöffnet, auf dem man alle „Wohnzimmer der Gesellschaft“ im Land finden und wo man sich selbst anmelden kann, wenn man auch eines geöffnet hat – einmal im Monat, oder auch im Jahr, ohne Anlass oder für ein Konzert, ein Dinner oder wozu man sich gern treffen möchte. Ganz einfach.

🐾 Lesen Sie weiter: Die neue Ausgabe unseres taz-Magazins FUTURZWEI N°35 mit dem Titelthema „Wohnzimmer der Gesellschaft“ gibt es jetzt im taz Shop.