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taz FUTURZWEI

Titelessay von Harald Welzer Zahlen des Grauens

Geschichten sind stärker als Zahlen, das sieht man an der Ideologisierung von Migration wie an der Ignoranz gegenüber einer Klimakatastrophe. Wir bevorzugen Fakten!

Verkörpert den Grusel der Mathematik, aber auch in der berühmten Sesamstraße ist klar: Die Auseinandersetzung mit Zahlen ist wichtig für Jung und Alt Foto: wikimedia commons

taz FUTURZWEI | In Krisenzeiten hat die Dummheit Konjunktur, in Dauerkrisenzeiten wird sie infektiös. Würde man Debatten, wie sie vor zehn Jahren etwa zum Thema Migration oder Bürgergeld (was damals noch nicht so hieß) geführt wurden, mit heutigen vergleichen, fände man eine radikale Ideologisierung beider Themen und zugleich eine argumentative Verflachung, die deprimierend ist.

Man erinnert sich vielleicht, wie Angela Merkels Flüchtlingspolitik 2015 seitens der CSU attackiert wurde, aber weite Teile der CDU noch im liberal-konservativen Lager standen und zumindest anfangs eher einer „Willkommenskultur“ das Wort redeten als radikaler Bekämpfung „irregulärer“ Migration (was mittlerweile ein gängiger Topos ist, ohne dass mal jemand sagt, dass „forced migration“ aufgrund von Krieg, Vertreibung, Hunger, Verfolgung, Ex­tremwetter et cetera immer irregulär ist, ganz besonders für das Leben der Betroffenen).

Bild: Jens Steingaesser
Harald Welzer

Harald Welzer, Jahrgang 1958, ist Sozialpsychologe und Mitherausgeber des Magazins für Zukunft und Politik taz FUTURZWEI.

Und heute? Übertreffen sich die „Mitteparteien“ in Deutschland in Sachen Migration im Übertreffen der AfD und haben einen Wahlkampf geführt, der nicht wenigen Menschen mit Einwanderungsgeschichte große Beunruhigung und ein Gefühl der Entheimatung beschert hat.

Sie begründen das originell damit, dass man damit die AfD bekämpfe.

Man erinnert sich vielleicht auch daran, wie die Sozial­demokratie zur selben Zeit unter dem Hartz-IV-Trauma litt und dringend wieder Boden als Partei der sozialen Gerechtigkeit gutmachen wollte.

Mythos der Leistungsverweigerer

Heute erzählt besonders der SPD-Vorsitzende unermüdlich eine Kitschgeschichte, in der „hart arbeitende Menschen“ und solche, „die morgens früh aufstehen“, die Hauptrolle spielen, weshalb beim Bürgergeld aber endlich der Missbrauch abgestellt gehöre (ein Hit, der so alt ist wie die Sozialgesetzgebung überhaupt: Wer arbeiten will, der findet auch Arbeit!).

Wer demgegenüber die Statistik bemüht, ist überrascht: 0,8 Prozent der Empfängerinnen und Empfänger von Bürgergeld waren von Leistungsminderungen betroffen, weil sie irgendetwas Zumutbares vonseiten der Arbeitsagentur verweigert hatten – das sind bei knapp vier Millionen erwerbsfähigen Bürgergeldbeziehern etwa 32.000 Menschen!

Die neue taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°34: Zahlen des Grauens

Die weltweiten Ausgaben für Rüstung betragen 2700 Milliarden Dollar im Jahr, ein 270stel davon wird weltweit gegen Hunger investiert. Wir präsentieren Zahlen des Grauens und plädieren gerade deshalb für Orientierung an Fakten statt an Talkshow-Aufregern.

Mit: Matthias Brandt, Dana Giesecke, Maja Göpel, Wolf Lotter, Armin Nassehi, Sönke Neitzel, Katja Salamo und Harald Welzer.

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Dieser Missbrauch, so der Bundesrechnungshof, kostet jährlich etwa 260 Millionen Euro, während der jährliche Schaden durch Steuerhinterziehung, Steuervermeidung oder „aggressive Steuergestaltung“ von internationalen Konzernen bei rund 200 Milliarden Euro liegt (wie der Vorsitzende der Deutschen Steuer-Gewerkschaft vorrechnet (Frankfurter Rundschau 2025). Dazu hört man aus der Partei der Arbeit so gar keine Geschichte.

Und nun zurück zur Migration. Hetze gegen Migration und migrantische Bevölkerungsteile, Forderungen nach Abschiebungen, verschärfter Grenzkontrolle, Abschaffung des Grundrechts auf Asyl – dieser politische Formenkreis bildet die DNA des Rechtspopulismus.

In einem grenzdebilen Zirkelschluss hat die politische Klasse daraus gefolgert, dass Migration der Hauptgrund für den massenweisen Zulauf zur AfD sei, weshalb jener nun endlich das Wasser abgegraben gehöre – ohne, dass irgendjemand mal die Frage stellt, wer warum wo die AfD tatsächlich wählt und was das mit faktischer oder gefühlter Migration zu tun hätte.

Die AfD in Ostdeutschland

Schon ein schneller Blick auf die regionalen Wahlergebnisse der AfD zeigt einen nahezu einheitlichen Schwerpunkt in Ostdeutschland und ein Level von 20 Prozent oder weniger in Westdeutschland, was dort schlicht der im gleichen Umfang schon seit Langem feststellbaren „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ entspricht.

Einen Sockel von rund einem Fünftel besonders vorurteilshafter, antisemitischer oder fremdenfeindlicher Personen haben alle demokratischen Gesellschaften; nur hatte dieses Fünftel in Deutschland bis zum Auftreten der AfD keine Partei.

Wenn in Ostdeutschland aber bis zur Hälfte der Wählerschaft sein Kreuzchen bei den Ausgrenzungspopulisten macht, zugleich aber der Anteil der Menschen mit Einwanderungsgeschichte weit geringer ist als in westdeutschen Bundesländern – nu, ist dann wohl Migration ursächlich für den dortigen Marsch nach rechts?

„Zahlen und Statistik bilden mitunter ein gutes Mittel gegen freidrehende Mythenproduktion.“

Oder ist es nicht viel mehr der geringere Frauenanteil in diesen Bundesländern, der auf zwei Abwanderungswellen (unmittelbar nach dem Mauerfall und in den Nullerjahren) zurückgeht und gerade in ländlichen Regionen dazu geführt hat, dass ein stellenweise groteskes Missverhältnis (wie im brandenburgischen Buckautal) von 80 Prozent Männern und 20 Prozent Frauen (unter 29 Jahren) zu verzeichnen ist.

Wenn man darüber hinaus weiß, dass Männer überproportional AfD wählen und der Rechtspopulismus die rassistische Erzählung pflegt, dass den armen guten deutschen Männern junge männliche „Afrikaner“ oder „Afghanen“ die Frauen wegnehmen wollen, findet man wohl eine plausiblere Erklärung für den AfD-Erfolg in Ostdeutschland, zugleich aber keine Antwort auf das Rätsel, wie man denn die Fortsetzung dieses Erfolgs bei den nächsten Landtagswahlen verhindern könnte.

Und eine weitere Abwanderung von Frauen, die nachvollziehbarerweise keine Lust haben, unter überwiegend dumpfen Typen zu leben.

Schon heute ist die AfD in Ostdeutschland in Parteienlandschaft und Alltagskultur völlig normalisiert und ihre Kernbotschaften sind in die Programmatik der etablierten Parteien eingewandert, ohne jede Grenzkontrolle.

Der Vibe-Shift?

Die Mitte ist nach rechts gewandert und fühlt sich dort sehr wohl; man kann es am triumphierenden Kulturkampf ablesen. Wir sehen hier eine shifting baseline, womit das Phänomen bezeichnet wird, dass Menschen hinsichtlich ihrer Wahrnehmungen und Überzeugungen keine fixen, sondern nur fließende Referenzpunkte haben und daher Dingen zustimmen können, die sie nur wenige Jahre oder Monate zuvor strikt zurückgewiesen hätten.

Dabei shiftet besonders auch das begriffliche Inventar im politischen Haushalt, neue Worte tauchen auf wie „militärische Fähigkeiten“ oder „Kriegstüchtigkeit“, neue Feindbegriffe wie „linksgrün Versiffte“ oder „Shitbürger“, neue Optionen wie „massenweise Abschiebung“ oder „dieses Gerichtsurteil entspricht nicht dem Wählerwillen“.

„Zahlen hingegen müssen interpretiert werden, stehen ungedeutet erstmal für gar nichts.“

Zahlen und Statistik bilden mitunter ein gutes Mittel gegen freidrehende Mythenproduktion – zum Beispiel im Zusammenhang der unhinterfragten Behauptung, Deutschland gäbe nicht genug Geld für Rüstung aus, aber viel zu viel für Entwicklungszusammenarbeit, habe ein massives Problem mit Terroranschlägen aus migrantischen, insbesondere ­muslimischen Populationen, dafür aber anscheinend keins mit Femiziden und biodeutscher Gewalt gegen Frauen.

Alle diese Mythen sind politisch instrumentalisierbar, weshalb sie gern immer wieder und weiter und so lange erzählt werden, bis sie als unhinterfragbare Selbstverständlichkeiten gelten.

Geschichten, das erleben wir gerade in absurder Dimension am Beispiel der Abmoderierung der Klimakatastrophe, sind stärker als Zahlen und Statistiken, weil sie Sinn zu geben scheinen. Zahlen hingegen müssen interpretiert werden, stehen ungedeutet erstmal für gar nichts.

Trotzdem, und das war Hans Roslings großer mythenstürmerischer Versuch in Factfulness, können sie allgemein kursierende Selbstverständlichkeiten wie die, dass die Welt immer schlechter würde, mit ausgewählten Zahlen korrigieren.

Und besonders dort, wo Sachverhalte und Zusammenhänge absichtsvoll konstruiert werden, kann man mit Zahlen transparent dagegenhalten und versuchen, diskursive Räume offenzuhalten, auch wenn andere sie zu schließen versuchen. Ein wirklich gutes Beispiel zur sachlichen Einordnung von Zahlen bietet zum Beispiel das Bundeskriminalamt, wenn es die Statistik nicht-deutscher Tatverdächtiger diskutiert (BKA 2024).

Ideologiekritik und Lüge

Vielleicht braucht es auch einfach eine Exhumierung der guten alten Ideologiekritik, bei der Fakten immer eine wichtige Substantiierung von Argumenten lieferten, gerade in einer Zeit, wo die Redlichkeit in der politischen Kommunikation sichtbar auf der ehemals konservativen Seite schwindet und man den Eindruck hat, die christlichen Parteien in Deutschland wählten nunmehr denselben gegenaufklärerischen Weg, den die Republikaner in den USA schon seit Langem eingeschlagen haben.

Interpretation is reality, und auch historisch ist es oft ein vergeblicher Versuch gewesen, mit Mitteln der Aufklärung gegen die Verführung vorzugehen, dümmer zu bleiben, als man es sein müsste.

Gerade in Zeiten, in denen das Lügen politisch salon­fähig geworden ist und man dem politischen Personal kaum die Kompetenz attestieren möchte, die Nachhaltigkeit ihrer Entscheidungen zu überblicken, würden wir gern mit ein paar Fakten helfen.

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