Thriller-Autorin Regina Nössler: In der fremden Stadt
Ihre Figuren tun ihr Bestes, um sich unsichtbar zu machen: Eine Runde durch den Park am Gleisdreieck mit der Autorin Regina Nössler.
Noch vor zwei Monaten hätten wir uns zum Gespräch wahrscheinlich in einem Café getroffen, doch derzeit ist ein Spaziergang mit Abstand die angemessenste Interviewform. Als ich überpünktlich zum vereinbarten Termin am Eingang zum Gleisdreieck-Park aufkreuze, ist Regina Nössler schon da. Ich erkenne sie gleich nach ihren Fotos im Internet; und sie sagt: „Damals hatte ich doch aber immer eine Frisur!“ Menschen mit Kurzhaarschnitt sind eben stärker betroffen vom Friseur-Lockdown als andere.
Regina Nössler wohnt in Kreuzberg und stammt aus dem Ruhrgebiet. Berlinerin ist sie seit 1995. Ungefähr ebenso lang schreibt sie Romane, die sie selbst nicht als Kriminalromane bezeichnen würde, da sie keinen kriminalistischen Plot haben und keine Ermittlerfiguren. Es sind vielmehr Psychothriller in der Tradition einer Patricia Highsmith oder Celia Fremlin, in denen die Autorin die finsteren Ecken im Innenleben ganz unauffälliger Menschen ausleuchtet.
Lange Zeit ging Nössler ihrer schreibenden Tätigkeit eher unentdeckt von einer größeren Öffentlichkeit nach. Doch wer lange währt, setzt sich manchmal eben doch durch: 2019 bekam sie den deutschen Krimipreis (2. Platz) für ihren Roman „Die Putzhilfe“. „Ich dachte, ich kriege einen Herzinfarkt“, sagt sie grinsend, als sie erzählt, wie sie von einer Mail ihrer Verlegerin mit der Preisnachricht überrascht wurde. Der Preis sei zwar undotiert, bedeute ihr aber wirklich sehr viel.
Regina Nössler: „Die Putzhilfe“ (2019) und „Schleierwolken“ (2028), beide konkursbuch Verlag Claudia Gehrke
„Die Putzhilfe“ spielt, ebenso wie der Vorgängerroman „Schleierwolken“, in Berlin. Anders als viele (Thriller-)AutorInnen nutzt Nössler die Stadt nicht als Kulissenvorrat, deren Versatzstücke sich unabhängig von den wahren geografischen Verhältnissen hin und her schieben lassen. Ihre Romanhandlungen finden an echten Schauplätzen statt, die in authentischer Weise zusammenhängen. Die Protagonistin von „Schleierwolken“ wohnt in Kreuzberg, die „Putzhilfe“ in einer finsteren Hinterhofabsteige in Neukölln.
Das Geheimnis ihrer Flucht
Die Straßen, auf denen die Romanfiguren wandeln, sehen Ortskundige beim Lesen plastisch vor sich. „Die Putzhilfe“ allerdings erzählt von einer Person, die alles andere als ortskundig ist: Die Ich-Erzählerin, die sich unter dem Namen „Marie Weber“ in Berlin niederlässt, in Wirklichkeit aber Franziska Oswald heißt, kommt aus der westfälischen Provinz in die große Stadt. Es dauert lange – genauer gesagt, bis zum Schluss –, bis wir wirklich wissen, was mit ihr los ist. Offenbar ist sie vor allem, aber nicht nur, auf der Flucht aus einer nicht glücklichen Ehe mit einem Kontrollfreak.
Diesen gutverdienenden Mann, das hübsche Reihenhaus in einer Neubausiedlung im Grünen, ihre wissenschaftliche Karriere als Soziologin an der Uni – all das lässt Franziska hinter sich, packt nur zwei Koffer und verschwindet aufs Geratewohl dorthin, wohin der nächste ICE sie bringt. Im derart zufällig angesteuerten Berlin tut sie ihr Bestes, sich unsichtbar zu machen, was auf Dauer dann doch schwierig ist.
Geldnot treibt sie dazu, eine Stelle als Putzhilfe bei einer wohlhabenden Zehlendorfer Witwe anzunehmen. Außerdem lernt sie ein verwahrlostes junges Mädchen kennen und freundet sich mit ihr an. Der Panzer beginnt zu bröckeln, „Marie“ beginnt ihren alten sozialen Status zu vermissen.
Etwas Eigenes entwickelt sich
Die Grundidee zu diesem Plot, sagt Regina Nössler, stamme eigentlich gar nicht von ihr, sondern von der 2009 verstorbenen englischen Autorin Celia Fremlin. In deren Roman „Rendezvous mit gestern“ geht die Protagonistin quasi den umgekehrten Weg, von der Stadt in die Provinz, um als Putzhilfe in einem wohlhabenden Haushalt unterzutauchen. „Zuerst wollte ich das eigentlich gar nicht“, sagt Nössler, „ich fand die Idee zwar gut, dachte aber, ich kann doch nicht einfach ein anderes Buch nachmachen!“ Aber dann sei ihr klar geworden, dass das Quatsch sei, spätestens beim Schreiben merke man ja, dass sich etwas ganz Eigenes entwickele.
An dieser Stelle des Gesprächs müssen wir stehenbleiben, der Park ist zu Ende. Wir verlassen ihn auf der Monumentenbrücke und beschließen, ihn weiträumig zu umrunden und hinten am Gleisdreieck wieder zu betreten.
„Und womit fangen Sie eigentlich meistens an?“, frage ich dann. „Beginnen Sie immer mit dem Anfang?“ Oh ja, sagt die Autorin, das erste Kapitel sei für sie die wichtigste Schwelle überhaupt, über die müsse sie unbedingt erst hinüber: „Es kann vorkommen, dass ich davon dreißig verschiedene Fassungen schreibe. Beim Schreiben braucht man Standing.“ Ein Buch brauche eben seine Zeit; bei ihr seien es im Schnitt anderthalb Jahre.
Treue zu ihrem Verlag
Das liegt natürlich unter anderem daran, dass Regina Nössler für ihren Lebensunterhalt noch andere Dinge tut. Sie arbeitet regelmäßig als freie Lektorin und Korrektorin, vor allem für kleinere Verlage, darunter auch der Tübinger konkursbuch-Verlag, bei dem ihre eigenen Bücher seit Mitte der Neunziger erscheinen. Mit der Verlegerin Claudia Gehrke ist sie außerdem befreundet, und „natürlich“, wie sie sagt, hat sie mit ihr ausführlich das Angebot des Suhrkamp-Verlags diskutiert, mit dem nächsten Buch in dessen Thriller-Reihe zu wechseln. Um sich dann allerdings – „erst einmal“ – dagegen zu entscheiden.
Loyalität zur angestammten verlegerischen Heimat spielt dabei eine Rolle, aber auch die Erwägung, dass Genretitel schnell als Remittenten auf den Grabbeltischen landen. „Bei den großen Verlagen ist ein Buch nach einem halben Jahr verschwunden“, sagt Regina Nössler. Bei Gehrkes konkursbuch dagegen seien auch ihre älteren Sachen immer noch zu haben.
Natürlich arbeitet sie bereits an einem neuen Romanprojekt, zu dem sie aber noch nicht viel sagen will und kann. Immerhin, etwas sei diesmal ein bisschen anders. „Ich habe kürzlich erst gelernt, dass es Standalone heißt, was ich normalerweise schreibe“, das wird wieder von diesem kleinen Grinsen begleitet. „Bei diesem neuen Buch denke ich nun aber wirklich zum ersten Mal darüber nach, ob die Hauptfigur sich für eine Reihe eignen könnte. Aber ich kann das zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht richtig einschätzen. Ich brauche auch immer eine Weile, um mich an meine Figuren zu gewöhnen.“
Zum Abschluss unseres großen Rundgangs sitzen wir noch ein wenig in der Sonne und tauschen Krimitipps aus. Dann geben wir uns zum Abschied, wie es sich gehört, nicht die Hand. Ich schließe mein Fahrrad auf und radele von dannen. Und Frau Nössler geht zu Fuß nach Hause.
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