Thomas Piketty für soziale Gerechtigkeit: Mehr Gleichheit ist möglich
Thomas Piketty setzt in der „Kurzen Geschichte der Ungleichheit“ auf Umverteilung als Weg zu mehr Gerechtigkeit. Wie, bleibt offen.
Nach 1945 gab es in Frankreich und anderen europäischen Ländern eine Hyperinflation. Die durch den Krieg aufgelaufenen monströsen Staatsschulden verschwanden damit im Nu, allerdings waren auch Millionen Kleinsparer ruiniert. In der Bundesrepublik setzte man mit der Währungsreform, so Thomas Piketty, auf ein schonenderes Verfahren, die Staatsschulden zu beseitigen, das Kleinsparer eher schützte. Das Lastenausgleichsgesetz 1952 war zudem eine wirksame Umverteilung von Besitzenden zu den Habenichtsen, die im Krieg alles verloren hatten.
Dieses kleine, prägnante Beispiel zeigt, dass Ungleichheit politisch erzeugt oder gebremst werden kann. Das ist nicht banal – denn es existieren zahlreiche wirksame Erzählungen, warum mehr Ungleichheit vertretbar oder nötig, naturgegeben oder unvermeidlich sei. Manche Wirtschaftswissenschafter halten mehr Ungleichheit für einen automatischen Effekt technischer Innovationen.
Thomas Piketty: „Eine kurze Geschichte der Gleichheit“. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. Verlag C. H. Beck, München 2022, 264 Seiten, 25 Euro
Piketty vertritt genau das Gegenteil: Mehr Gleichheit ist möglich. Das ist die Schlüsselthese seines 2020 erschienenen, 1.300 Seiten starken Opus magnum „Kapital und Ideologie“. Darin hat der französische Ökonom die Idee der Gleichheit von den Resten marxistischer Teleologie befreit. Ins Zentrum rückte er die Ideologie, die man als Ensemble aus gesellschaftlichen Machtverhältnisse und herrschenden Erzählungen übersetzen kann.
Dass Pikettys sperrige Werke globale Bestseller werden, verdankt sich dem Sinnloch, das der Bankrott des Neoliberalismus hinterlassen hat. Piketty kombiniert statistikgesättigte wirtschaftshistorische Analysen mit scharfer Kritik und einem historische Optimismus, der sich sowohl von der Untergangsbesessenheit der Linksradikalen als auch vom geistig dünnen sozialdemokratischen Pragmatismus absetzt.
Entschädigung der Sklavenhalter
Bei aller Ungerechtigkeit, so Piketty, gibt es „eine historische Bewegung hin zur Gleichheit“. Die Welt sei heute „egalitärer als die von 1950 oder 1900“, ganz zu schweigen von der von 1780, als die Sklaverei in einer Gesellschaft maximaler Ungleichheit herrschte. In der Eigentümergesellschaft des 19. Jahrhunderts war Besitz heilig – ein grelles Beispiel war die aufwendige Entschädigung der Sklavenhalter, die nach der Sklavenbefreiung für ihren verlorenen Besitz großzügig mit Geld bedacht wurden, in England mit einer Summe, die heute 120 Milliarden Euro entspricht.
Der Trend zu mehr Gleichheit im Westen von 1914 bis 1980, in der sozialdemokratischen Ära, verdankte sich sozialen Kämpfen, die den Sozialstaat und das progressive Steuersystem durchsetzten. Doch seit Reagan, Thatcher und der Deregulierung der Finanzmärkte bewegt sich die Welt in Sachen Gleichheit und Steuergerechtigkeit wieder rückwärts in die Vergangenheit.
Piketty schreibt umfangreiche, originelle Bücher – „Eine kurze Geschichte der Gleichheit“ ist beides nicht. Nonchalant ignoriert der Autor die Regel, dass man nie bei sich selbst abschreiben darf. Dieses Buch ist eine Art Bonsaiausgabe von „Kapital und Ideologie“. Struktur, Argumente, Thesen, alles klingt recht bekannt. Das ist nicht versteckt, fast auf jeder Seite weisen Fußnoten auf das Hauptwerk hin. Dieses Unterfangen schillert zwischen Selbstzitat und der Dienstleistung, 1.300 Seiten publikumsfreundlich einzudampfen.
Die Superreichen im Norden
In dieser Kurzfassung fällt, mehr als im Original, eine Leerstelle auf. Rettung versprechen laut Piketty nur entschlossene Umverteilung und Einschränkung der Marktmacht. Es soll ein Erbe für alle geben (120.000 Euro), das die Akkumulation von Reichtum verhindert, ein hohes Grundeinkommen, radikale Wirtschaftsdemokratie und, weil der Globale Süden ein Recht auf Entschädigung für koloniale Verbrechen hat, erst mal 1.000 Milliarden Euro, die die Superreichen im Norden zahlen sollen. Am Horizont leuchtet die Idee eines „dezentralisierten Sozialismus, der auf Selbstverwaltung und permanenter Macht- und Eigentumszirkulation beruht“.
Die Liste der Forderungen ist in diesem Buch noch viel länger – und steht im Missverhältnis zu der Frage, unter welchen Bedingungen das umsetzbar ist. Was fehlt, ist eine zarte Andeutung, wer das alles ändern soll, und eine zumindest skizzenhafte Analyse der Machtverhältnisse.
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