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Den Sommer 1933 verbringt Thomas Mann im französischen Exil in Sanary-sur-Mer, bevor er weiter in die Schweiz reist und später in die USA emigriert Foto: ETH-Bibliothek, Zürich/Thomas-Mann-Archiv

Thomas Manns 150. GeburtstagVom Reaktionär zum Antifaschisten

Zum 150. Geburtstag Thomas Manns sind seine Radioansprachen an die „Deutschen Hörer“ neu erschienen. Darin zeigt er sich als antifaschistischer Kämpfer.

E s sollten nicht nur seine Worte, es sollte unbedingt auch seine Stimme sein, die den Deutschen ins Gewissen redet und sie aufrüttelt. Seine eigene Stimme. Kein Sprecher, der seinen Text vorliest. Das war ihm wichtig. Also lässt sich Thomas Mann, der damals wahrscheinlich berühmteste lebende Schriftsteller der Welt, vom März des Jahres 1941 an einmal im Monat in ein Tonstudio in Hollywood fahren; er selbst fährt kein Auto, zeit seines Lebens hat er keinen Führerschein gemacht, seine Frau Katia fährt ihn oder seine Tochter Erika, zeitweise hat er auch einen Chauffeur.

In dem Tonstudio setzt er sich, ein Schriftsteller in seinen Sechzigern, selbstverständlich auch im lockeren Kalifornien korrekt gekleidet, vor ein Mikrofon und spricht seinen vorbereiteten Text ein. Das macht er den ganzen weiteren Zweiten Weltkrieg so und noch ein paar Monate darüber hinaus, bis zum November 1945. Fünf Minuten wollte der Fremdsprachendienst der BBC jeweils von ihm haben, er hat den britischen Sender auf acht Minuten hochgehandelt und sich alle inhaltlichen Freiheiten versichern lassen. Dabei wird es bleiben.

Die Ansprache wird auf eine Schallplatte aufgenommen. Und während Thomas Mann in sein Haus zurückgefahren wird, erst in ein gemietetes Anwesen, dann ab dem Jahr 1942 nach 1550 San Remo Drive, Pacific Palisades, Los Angeles, in die Villa, die er sich im Exil hat bauen lassen, wird die Schallplatte per Boten zum Flughafen gebracht. Mit der nächsten Maschine geht sie nach New York.

Das Hören des Feindsenders stand unter Strafe

Dort wird sie vom Flughafen abgeholt. Eine Telefonverbindung zur BBC nach London wird hergestellt. Die Schallplatte wird abgespielt und das gesprochene Wort auf der anderen Seite des Atlantiks wieder auf Schallplatte aufgenommen. Und schließlich werden die Ansprachen, wird Thomas Manns Stimme nach Deutschland ausgestrahlt, wo das Hören des Feindsenders unter Strafe steht und von Störsendern behindert wird. Wie viele Menschen Thomas Mann tatsächlich zugehört haben, ist unklar.

Diese Rundfunkansprachen sind vom Fischer-Verlag in diesem Frühjahr unter dem Titel „Deutsche Hörer!“ neu herausgebracht worden, mit aufrüttelnden Begleittexten der Autorin Mely Kiyak und dem Vorwort zur allerersten Ausgabe, in dem Thomas Mann mit erkennbarem Stolz auch von der technischen Umsetzung dieser Ansprachen berichtet.

Der Weg dieser Schallplatte in all seinen Stationen vom sonnenbeschienenen Kalifornien bis hin zum von der deutschen Luftwaffe bombardierten London wäre übrigens ein guter Anfang für eine historische Miniserie. Der Kampf gegen Nazideutschland vom Exil aus, überhaupt mal die Exilzeit in Kalifornien, neben Thomas Mann waren auch Bertolt Brecht, Theodor W. Adorno und viele andere da – vielleicht geht ja mal jemand so eine Serie an.

Die Radioansprachen fügen dem Bild des Schriftstellers eine neue Facette hinzu

Die Ansprachen, 59 sind es insgesamt, waren nun keineswegs unbekannt. Aber sie sind lange Zeit nicht gewürdigt worden, als Gebrauchs- und Nebentexte wurden sie abgetan. Dabei können sie, jetzt zum 150. Geburtstag Thomas Manns am 6. Juni, seinem Bild nicht nur eine neue Facette hinzugeben, sie können das Bild dieses Schriftstellers insgesamt verschieben oder vielleicht eher wachrütteln. Und sie sind ein wahrer Fund in unser Gegenwart mit ihrer erstarkten AfD und ihren weiteren politischen Bedrängnissen.

In den Ansprachen zieht Thomas Mann alle Register. Er redet vom „Teufelsdreck“ des Nationalsozialismus und seinem „Hass“ auf ihn. Hitler bezeichnet er als „kümmerlichen Geschichtsschwindler und Falschsieger“, als „stupiden Völkermörder“, „widerwärtig“, „eine hohle Nuss“, „idiotisch obszön“, die „abstoßendste Figur, auf die je das Licht der Geschichte fiel“. Deutschland beschreibt er als „Amokläufer unter den Völkern“. Manchmal spürt man, wie es ihm, der in seinen Texten sonst jedes Wort auf die Goldwaage legt, schlicht ein Bedürfnis ist, in diesen Ansprachen seinem Abscheu freien Lauf lassen zu können.

Thomas Mann bezeichnet Hitler als widerwärtig und die „abstoßendste Figur, auf die je das Licht der Geschichte fiel“

Hier spricht also nicht der Ironiker Thomas Mann. Auch nicht der Autor brillanter Szenen aus dem Lübecker Großbürgertum oder der Vorkriegszeit in einem Sanatorium im Gebirge. Und auch nicht der Schriftsteller, der sich in vielen Andeutungen und komplizierten Formulierungen um seine Homosexualität herumwindet. Hier spricht ein Autor im Kampfmodus. Spätestens ab 1930, als die NSDAP in Deutschland bei den Reichstagswahlen auf 18,3 Prozent der Stimmen kam, waren die Nazis nicht einfach mehr politische Gegner für ihn, sie waren seine Feinde, so beschreibt es der Literaturwissenschaftler Kai Sina in seiner erhellenden Studie „Was gut ist und was böse – Thomas Mann als politischer Aktivist“.

Aber es bleibt in diesen Radioansprachen nicht bei dieser „Rhetorik des entflammten Zorns“ (so der Mann-Forscher Dieter Borchmeyer). Thomas Mann informiert die Deutschen auch über den Kriegsverlauf. Als die Wehrmacht noch auf dem Vormarsch ist, fragt er, ob sie, die Deutschen, wirklich so siegen wollen: „Die Welt, die das Ergebnis wäre vom Siege des Hitler, wäre nicht nur eine Welt universeller Sklaverei, sondern auch eine Welt des absoluten Zynismus.“ Später, als der Lauf des Krieges sich gewendet hat, ermahnt er die Deutschen, dass ein Frieden unter diesem verbrecherischen Regime nicht möglich sein wird.

Thomas Mann konfrontiert seine Hörerinnen und Hörer früh mit dem Holocaust

Er konfrontiert seine Hörerinnen und Hörer auch früh mit dem Holocaust. Im November 1941 spricht er das „Unaussprechliche“ an, „das in Russland, mit den Polen und Juden geschehen ist und geschieht“. Und als er im Verlauf des Krieges die Opferzahlen immer höher setzen muss, fragt er seine Hörer direkt: „Weißt du, der mich jetzt hört, von Hitlers Vernichtungslager? Aus Knochenmehl wird Kunstdünger.“ Dass Auschwitz zum Signum der Epoche wird, scheint ihm bereits klar zu sein.

Aber warum sollte es unbedingt seine eigene Stimme sein, die da spricht? Zunächst waren noch die Manuskripte der Ansprachen nach London verschickt und dort von einem Sprecher verlesen worden. In der Ansprache vom Februar 1941, der letzten der nur vorgelesenen, beschreibt Thomas Mann seine Eindrücke von einer Rede Adolf Hitlers im Berliner Sportpalast und spart dabei nicht mit Ausdrücken des Abscheus. Von „Hassgebrüll“ schreibt er, von einer „Verhunzung der deutschen Sprache“.

Das zerstörte Hotel Kaiserhof in Berlin, ca. 1945 Foto: ETH-Bibliothek, Zürich/Thomas-Mann-Archiv

Das kann er nicht dulden. Dass die deutsche Sprache mit der lärmenden, sich in seinen Ansprachen regelmäßig überschlagenden Stimme Adolf Hitlers assoziiert wird, kann er nicht stehen lassen. Also spricht er gleich im nächsten Monat die Ansprache selbst ins Mikrofon. „Diesmal hört ihr meine eigene Stimme. Es ist die Stimme eines Freundes, eine deutsche Stimme“, heißt es zu Beginn der Rede.

Die Stimme Thomas Manns gegen die Stimme Hitlers

Die Stimme Thomas Manns gegen die Stimme Hitlers: ein Showdown für sich. Dass man mit Worten allein gegen die deutsche Kriegsmaschinerie nicht ankommt, weiß er selbst. Aber er legt Zeugnis ab. Indem er selbst in den Ring steigt und seine Stimme gegen die Stimme Hitlers hält, bestreitet er ganz konkret die Legitimation der Nazis, Deutschland als Ganzes zu repräsentieren.

Beim Nachdenken darüber, wie es so weit kommen konnte, schont er Deutschland allerdings keineswegs. Der Nationalsozialismus habe „lange Wurzeln im deutschen Leben“, sagt er und meint damit den deutschen Sonderweg der Romantik, deren Entartungsformen „den Keim mörderischer Verderbnis immer in sich trugen“. Und weiter: „Zusammen mit Deutschlands hervorragender Angepasstheit an das technische Zeitalter bilden sie heute eine Sprengmischung, die die ganze Zivilisation bedroht.“

In gewisser Weise nimmt er auch die Westbindung voraus. Nicht in ihrem Wortlaut, aber in der Art und Weise seiner Radioansprachen hat er sich, wie Kai Sina herausgearbeitet hat, die Ansprachen des amerikanischen Präsidenten Theodor Roosevelt und des britischen Premiers Winston Churchill zum Vorbild genommen. Den Fake News und den auf Massensuggestion ausgerichteten Inszenierungen der Nazis hält er ein Setzen auf Demokratie und eine kämpferische Vernunft entgegen.

„Das Recht, deutsch zu sein“

Es lohnt sich unbedingt, auch heute noch tiefer in diese Radioansprachen einzusteigen. Man wird viele Argumente finden, die sich auch in der gegenwärtigen Lage mit einer erstarkten AfD gut verwenden lassen. Vollends aktuell klingt etwa, was Thomas Mann über Freiheit schreibt: „Der deutsche Freiheitsbegriff war immer nur nach außen gerichtet; er meinte das Recht, deutsch zu sein, nur deutsch und nichts anderes.“

Und weiter: „Er war ein protestierender Begriff selbstzentrierter Abwehr gegen alles, was den völkischen Egoismus bedingen und einschränken, ihn zähmen […] wollte.“ Und noch weiter: „Ein vertrotzter Individualismus nach außen, im Verhältnis zur Welt, zu Europa, zur Zivilisation, vertrug er sich im Inneren mit einem befremdenden Maß von Unfreiheit, Unmündigkeit, dumpfer Untertänigkeit.“

Vertrotzter Individualismus und Unmündigkeit – was für Sätze! Von Kulturpolitikern der AfD ist gelegentlich die Forderung zu hören, es sollten wieder mehr deutsche Klassiker in den Schulen gelesen werden. Verbunden ist das mit irgendwie antiwoken Hoffnungen, dann werde wieder mehr Zucht und Ordnung (was immer das sein soll) in der Gesellschaft einkehren. Im Falle des reifen Thomas Mann – der jüngere, der der „Betrachtungen eines Unpolitischen“, hatte sich tatsächlich ins Reaktionäre verrannt – braucht man sich da aber gar nicht Angst und Bange machen lassen, wie bei vielen anderen deutschen Klassikern ja auch nicht. Es kommt eben drauf an, wie man sie liest. Für völkisches Denken, überhaupt für Autoritarismus vereinnahmen lässt sich Thomas Mann keineswegs.

„Als verklemmter Homosexueller wurde er verspottet“

Wie konnte es geschehen, dass diese Ansprachen bislang so wenig in das allgemeine Bild dieses Schriftstellers eingeflossen sind? In ihrem Nachwort der Neuausgabe mutmaßt Mely Kiyak, es sei für die Deutschen halt bequemer gewesen, sie zu vergessen. Sonst hätte „die große Deutschlanderzählung vom Nichtwissen und Nichtmitgemachthaben nicht mehr gestimmt“. Und im Vorwort des Bandes kommt sie grundsätzlich auf das Bild dieses Autors zu sprechen. Porträts, Literaturbetrachtungen, Spielfilme und Biopics hätten ihn zu „einer neurotischen Witzfigur karikiert und degradiert“, sagt sie da. „Als verklemmter Homosexueller wurde er verspottet, als hypochondrisch, wehleidig, verwöhnt, hartherzig zu seinen Kindern, bourgeois und so weiter und so weiter. Man lachte sich über ihn in Deutschland kaputt.“

Das ist überpointiert. Außerdem hat es in Deutschland immer auch die Spur einer unkritischen Würdigung dieses Autors gegeben: Geniekult, Feier der Sublimierungskraft seiner artistischen Prosa einerseits, kostümfilmhaftes Ausbeuten seiner Prominenz und pittoresken Szenerien rund um das Meer, die Bürgerlichkeit, zerquälte Künstlerfiguren andererseits.

Doch es stimmt wahrscheinlich, dass das allgemeine Bild dieses Autors dazu beigetragen hat, etwa seine antifaschistische Kämpferseite wegzudimmen. Dieses Bild ist tatsächlich verstaubt. Und so lobenswert es sein mag, dass die Wendung vom Reaktionär zum überzeugten Demokraten inzwischen in die offizielle Selbstbeschreibung der Bundesrepublik aufgenommen wurde – auf der Feier zum 150. Geburtstag in Lübeck wird der Bundespräsident sprechen –, haftet dem in etwa die Sexiness von humanistischer Bildung an. Thomas-Mann-Jubiläen haben leicht die Anmutung von Sekundarstufe II.

Von antisemitischen Klischees lange keineswegs frei

Die Neuausgabe der „Deutschen Hörer!“ wirkt dagegen, als würde frischer Wind durch dieses Leben und literarische Werk wehen. Passend dazu zeichnet der Literaturwissenschaftler Kai Sina in seinem Buch die Wandlung des reaktionären Thomas Mann des Ersten Weltkrieg erst zum aktivistischen Verteidiger der Demokratie in der Weimarer Republik, dann zum antifaschistischen Kämpfer in allen Ambivalenzen nach. Diese Wandlung verlief nicht gradlinig. Dabei spart Sina auch die fragwürdigen Seiten Thomas Manns nicht aus, der etwa von antisemitischen Klischees lange keineswegs frei war.

Man kann es anders akzentuieren als Mely ­Kiyak: Was in Thomas-Mann-Jubiläen zuletzt Pfeffer gebracht hatte, waren gerade die skeptischen und anklagenden Blicke auf seine fragwürdigen Seiten als Patriarch in all seiner emotionalen Distanziertheit – als würde die Nachwelt so ablehnend auf ihn schauen wie seine Figur Hanno auf die protestantische Leistungsethik seines Vaters Thomas Buddenbrook.

Doch bei diesem 150. Geburtstag ist etwas anders: Thomas Mann selbst beginnt noch einmal interessant zu glänzen. Von den Radioansprachen aus lässt sich jedenfalls auch wieder neugierig auf sein literarisches Spätwerk blicken: Warum hat er sich für die Sprachakrobatik seiner Joseph-Romane eine jüdische Vorlage gesucht? Zu welchen Anteilen arbeitet er im „Doktor Faustus“ die zum Nationalsozialismus führende deutsche Kulturgeschichte auf, und zu welchen Anteilen verbrämt er sie als ins Nationale gewendetes Außenseitertum?

„Hunde im Souterrain“

Auch sonst gewinnt Thomas Manns Leben derzeit noch einmal neu Kontur. Denn so viel über ihn schon geschrieben worden ist – ganze Bibliotheken voll –, nicht nur über seinen politischen Aktivismus, auch über seine Homosexualität war noch nicht alles gesagt worden. Oder eher: waren die biografischen Tatsachen noch nicht deutlich genug berücksichtigt worden.

Das unternimmt jetzt der Autor Tilmann Lahme in seiner soeben erschienenen Biografie „Thomas Mann. Ein Leben“. Lahme beschreibt Thomas Mann als eindeutig homosexuellen Mann, der seine Homosexualität, die „Hunde im Souterrain“, wie es bei Mann heißt, aber nicht auslebt – ein, so Lahme, „lebenslanger Kampf, der im Leben, im Tagebuch und in der Literatur ausgetragen wird“. Dabei stützt sich Lahme auf Briefe, die bislang noch nicht gedruckt, und auf Stellen des Tagebuchs, die bislang in den Druckfassungen weggelassen worden sind.

Die ganze Tragik eines solchen Lebens wird so deutlich – mit Kollateralschäden etwa auch für die Ehefrau Katia Mann, auf die Tilmann Lahme auch zu sprechen kommt. Das Besondere daran, was mit dem schlimmen Wort „verkniffen“ auch so wahnsinnig schlecht beschrieben ist: Das alles war Thomas Mann selbst bewusst. Er panzert sich nicht gegen sein eigentliches Begehren – oder jedenfalls tut er es nicht die ganze Zeit über –, er hat Zugang zu seinen Gefühlen, formuliert sie auch, wenn auch auf seine Weise, verliebt sich auch immer wieder, wenn auch stets unglücklich. Die restriktiven Kältelehren, mit denen er aufgewachsen ist, waren zu stark. Das alles beschreibt Lahme in all seinen Ambivalenzen.

So nah uns Thomas Mann in seinem politischen Aktivismus kommen kann, so weit entrückt er sich von der Gegenwart wiederum in seinem Gefühlsleben. Man kann nur froh sein, dass es zwischen Thomas Manns Lebenszeit und der heutigen Zeit die sexuelle Revolution gegeben hat und in ihrem Gefolge viele sexuelle Liberalisierungen gesellschaftlich umgesetzt worden sind.

Bei aller Bewunderung für seine schriftstellerischen Fähigkeiten lässt Lahme auch in der literarischen Einschätzung Thomas Manns Ambivalenzen zu. Madame Chauchat wird, da hat Lahme recht, in der zweiten Hälfte des „Zauberbergs“ von der aufregenden Femme fatale der ersten Hälfte zur Begleiterin eines reichen Mannes, Mynheer Peeperkorns, degradiert. Außer in den „Buddenbrooks“ (Tony!) sind Frauenfiguren sowieso nicht Thomas Manns Stärke. Und viele Beschreibungen in den Joseph-Romanen sind ihm dann doch zu ornamental und ausufernd geraten.

Man kann nur froh sein, dass es zwischen Thomas Manns Lebenszeit und der heutigen Zeit die sexuelle Revolution gegeben hat

An einer Stelle seiner Biografie wundert sich Tilmann Lahme darüber, warum sich ausgerechnet der „Tod in Venedig“ so lange auf den gymnasialen Lehrplänen gehalten hat. Tatsächlich werden heutige Schü­le­r*in­nen nur noch mit Verwunderung lesen, wie gewunden diese Novelle das Thema Homosexualität angeht. Und sie werden das Stalking des 14-jährigen Tadzio durch einen alternden Mann eher in MeToo-Kontexte einordnen als unter „tragisches Künstlerschicksal“. Überhaupt sind die pathetischen Subtöne des Künstler-Bürger-Gegensatzes, die sein Werk durchziehen, inzwischen eher historisch geworden (auch wenn das zu akzeptieren Menschen wie mir, die damit teilweise literarisch sozialisiert worden sind, schwerfällt).

Aber andere Aspekte seines Werkes glänzen weiterhin oder sogar neu. Elektrisierend bei Tilmann Lahme etwa die Abschnitte über den „Zauberberg“. Man gewinnt den Eindruck, dass unsere gegenwärtige Gesellschaft in ihrem Kampf um die Mitte und mit der Neuen Rechten den Bildungsroman zwischen Antipolitik und Verantwortungsübernahme, den Thomas Mann beschreibt, derzeit in der Wirklichkeit nachholen muss. Ausgang noch offen. Und entlastet von Sublimierungsgedanken, kann man sich auch der schieren Sprachartistik, an vielen Stellen auch des Sprachrausches seiner Bücher hingeben. Irgendwo ist es schlicht beeindruckend, welche Mühe er sich damit gegeben hat.

Vorschlag: Statt den „Tod in Venedig“ könnte man in der Schule einige Radioansprachen des „Deutsche Hörer!“-Bandes lesen und von ihnen ausgehend über deutsche Geschichte und heutige Politik reden. Und wer mag und einen Sinn dafür hat, kann im Laufe seines Leselebens aus dem „Tod in Venedig“ oder auch aus „Tonio Kröger“, wie etwa aus manchen steinernen Heiligendarstellungen an Kathedralen oder manchen Entsagungsarien in der klassischen Oper, den Schmerz herausfühlen, den Thomas Mann in diese Texte hineingepackt hat.

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13 Kommentare

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  • "Verbaler Angriff auf den Holocaust"



    Bei deutschlandfunkkultur.de 2012



    Weiter dort:



    "Thomas Manns Reden an die „Deutschen Hörer“ sind historische Dokumente der Ohnmacht, sein hilfloser Versuch, etwas gegen das Unfassbare zu setzen. Sie haben vor allem eines: symbolische Kraft. Sind verbale Attentatsversuche gegen ein Regime der „Killer“. Und das ist nicht gering zu veranschlagen in Anbetracht von Millionen von Schweigenden."

    Die Erkenntnis der letzten Jahrzehnte bei mir: Einige LehrerInnen der BoomerInnen an weiterbildenden Schulen mieden die Lektüre der Werke von Thomas Mann im Unterricht, mir schwant etwas.



    Es war nicht nur der Kontext Haltung zum Judentum und zur sexuellen Orientierung problematisiert virulent, die Reden Manns dokumentieren, was grundsätzlich Teil der Information hätte werden können, wenn nicht Ignoranz oder aktives Wegsehen für viele aus Opportunismus die vermeintlich bessere Lösung geworden wäre.

  • Um auch ein wenig Wasser in den Wein zu schütten:



    Außer "Felix Krull" fand ich Hr. Manns Romane immer eher öde. Es bedurfte schon einer ordentlichen Portion Disziplin und der festen Überzeugung, dass das Abarbeiten des klassischen Bildungskanons auch einen Mehrwert haben würde, um sich das anzutun.



    In seinen Tagebüchern kommt Hr. Mann auch sehr arrogant rüber. Z.B. forderte oder erwartete er einen zweiten Literaturnobelpreis, dann fürs Gesamtwerk. Der eine für die "Buddenbrooks" war ihm zu wenig an öffentlichem Lob.



    Von seinen sechs Kindern hat nur Elisabeth ihr Leben als glücklich bezeichnet. Sie lebte aber auch, beruflich und persönlich, fernab vom grausam dominanten Vater. Die anderen kamen da irgendwie nicht los. Zwei der Mannkinder haben Selbstmord gemacht. Die meisten anderen hatten irgendwann psychische Probleme. Es gab auch fast keine Enkel. Sohn Golo Mann meinte später, es wäre okay gewesen, wenn man ihn nach der Geburt in der Klinik versehentlich vertauscht hätte.



    Lassen wir noch Hr. Mann selbst zu Wort kommen: "Jemand wie ich sollte selbstverständlich keine Kinder in die Welt setzen." Das war 1918. Späte Einsicht, denn da waren es schon fünf.

  • Zwei "kleinliche" Anmerkungen zum ansonsten magistralen Text von Dirk Knipphals:



    Statt "auch wenn das zu akzeptieren Menschen wie mich [...] schwerfällt" muss es hier immer noch 'wie mir' heißen.



    Und weil wir schon bei "Statt..." sind:



    Anstelle von "Statt den 'Tod in Venedig' könnte man in der Schule einige Radioansprachen [...] lesen" würde ich entweder 'Statt des...' schreiben oder 'Anstatt den... zu lesen'. (Zumindest erschiene mir das angemessen im Blick auf den sprachbewahrenden Jubilar...)

    Außerdem sit venia verbo: Thomas Manns Sprachakrobatik und Sprachrausch in allen Ehren, aber mir war der vergleichsweise eher nüchterne und weniger elitäre (oder bourgeoise) Stil seines Bruders Heinrich immer lieber - nur wusste sich eben Thomas nach seinem populären "Buddenbrook"-Erfolg so oder so besser zu verkaufen. Oder das Bildungsbürgertum störte sich letztlich doch an Heinrichs politischen Tendenzen?

    • @Auweiowei:

      Für alle Fälle...



      „Über, unter, vor und zwischen,



      Statt, auch längs, zufolge, trotz



      Stehen auf die Frage wessen.



      Doch ist hier nicht zu vergessen,



      Daß bei diesen letzten drei



      Auch der Dativ richtig sei."



      (Joachim Ringelnatz - Ringkampf)



      www.zeno.org/Liter...gedichte/Ringkampf



      --



      Statt. Mit Wörtern zu ringen, könnten wir doch dem Jubilar seine Kunst bewundern.



      --



      btw.: Danke, Dirk Knipphals.

      • @starsheep:

        "Statt den [...] " ist nicht einmal Dativ, sondern leider nur Akkusativ, aber selbst wenn das ein Dativ wäre (denn man kann ja mal 'den'/dem' verwechseln...), hier wäre er völlig fehl am Platz: An 'Statt dem [...] lesen' hätte wohl selbst Ringelnatz nicht im Ernst gedacht.



        Und falls Sie sich mit "dem Jubilar seine Kunst" auf Thomas Mann beziehen, wovon ich ausgehe - die stelle ich mit den Worten des Kommentators D. Knipphals ("Sprachakrobatik" und "Sprachrausch") gar nicht in Frage, im Gegenteil. Den Artikel selbst habe ich als "magistral" bezeichnet. Das will sagen, ich 'anschließe mich', wie ein anderer Forist hier in der taz zu sagen pflegt.



        Dass ich mir trotzdem meine Vorliebe für Thomas' Bruder Heinrich nicht verkneifen kann, wen stört's denn? Ansonsten:



        honni soit qui mal y pense.



        (Heinrich Mann war nämlich ausgesprochen frankophil.)

  • Ich bin jahrzehntelang um Mann herum gekommen, bei "Tonio Kröger" in der Schule war ich krank.



    Meine erstes Mann-Buch habe ich erst letztes Jahr gekauft, eine antiquarische Ausgabe des hier genannten "Deutsche Hörer!" aus DDR-Zeiten, Insel-Verlag, Leipzig. Schön, dass das Buch jetzt wieder neu aufgelegt wird!



    Ich wundere mich zwar an vielen Stellen über die gestelzte, oft unbeholfene Sprache des Dichterfürsten, aber egal: Wichtig ist die Botschaft. Wichtig ist: Mann war Antifaschist!

  • Spannend, erleuchtend und inspirierend – danke für diesen Text!



    Es ist faszinierend, welche Metamorphosen Geistesgrößen wie Thomas Mann im kulturellen Gedächtnis durchlaufen – und wie sehr ihre Rezeption vom jeweiligen Zeitgeist abhängt. Hoffen wir, dass solche Stimmen auch künftig ihren Platz in Bildung und öffentlichem Diskurs behalten. Denn wir erleben bereits, wie antidemokratische Strömungen (MAGA, AfD u. a.) versuchen, kulturelle Komplexität durch populistische Vereinfachung zu verdrängen.



    Auch haben mich Thomas Manns 'Deutsche Hörer' erneut daran erinnert, mit welcher Monstrosität das NS-Regime agierte. Vielleicht braucht es heute neue Formen der Abschreckung – ähnlich den Warnhinweisen auf Zigarettenschachteln –, um die Gefahren des Faschismus sichtbar zu halten. Denn, um mit Aristoteles zu sprechen: Gerade die Demokratie steht in der Gefahr, von einer uninformierten Mehrheit untergraben zu werden.

  • Wunderbar, das macht Lust aufs Lesen und Hören, sogar auf Thomas Mann, durch dessen verschoben-verschroben-gedrechselt-gedrehten Tod in Venedig ich mich im Deutsch-LK in den 90ern quälte, es war so anstrengend indirekt geschrieben und inhaltlich auch schon vor MeToo höchst irritierend und eher abstoßend, nur Fontanes Effi als Lektürepflicht und als Schlöndorfffilm konnte das an Langatmigkeit noch übertrumpfen. Und ich konnte mich später nicht überwinden, mehr zu lesen von ihm, zu abschreckend war die Großliteratur.



    Der Empfehlung, sich Mann aus heutigem Abstand lieber über die Radioansprachen zu nähern, schließe ich mich gern an.

  • Großartiger Text, vielen Dank.



    Der Tod in Venedig war auch als Verfilmung ein Klassiker.



    Thomas Mann, der mit Hermann Hesse eng befreundet war, wurde u.a. wegen seiner antifaschistischen Haltung und seiner Verdienste sogar der Stalin-Preis angetragen.



    Das hat er sich dann aber zweimal überlegt und schließlich abgelehnt.



    Ersatzpreisträger: Bertolt Brecht



    "Den Preis abzulehnen (wie Thomas Mann, der der eigentliche Kandidat gewesen war, was Brecht, der Verlegenheitskandidat, natürlich nicht wusste), wäre ein Affront gewesen. Ihn anzunehmen, verschaffte Freiräume. Wer hätte es in der DDR wagen können, einen Stalin-Preisträger allzu hart zu kritisieren?"



    Quelle deutschlandfunkkultur.de



    Eigentlich heute ein Festtag für die Resilienz in Sachen Demokratie.

    • @Martin Rees:

      Schonn. But - rememer too

      🤖01 Thomas Mann, 1949 in Weimar, erhielt die Ehrenbürgerschaft und den Goethe-Nationalpreis der DDR



      🤖2 “ In einem Festakt erhielt der 74-jährige Thomas Mann am 1. August 1949 im Deutschen Nationaltheater die Ehrenbürgerschaft Weimars und den Goethe-Nationalpreis. Dieser wurde eigens für ihn geschaffen. Der Anlass: Goethes 200.“

      Kein geringerer als Buchenwald-Häftling Jorge Semprún - Ettersberg Weimar (die KZ-Baracken wurden von DDR&Sowjets, wie auch sonst häufig, weiter“genutzt:( -



      Hat ihn darob in einem Essay “Das Böse ist in der Welt“* wg Manns Antichambrieren - dem Anlaß - der Örtlichkeit & der unkritischen Rede etc - scharf kritisiert.

      Thomas Mann & Gerhard Hauptmann wetteiferten ja bekanntlich darum:



      Wer denn nun der wahre Goethe des



      20. Jahrhunderts sei.



      Vanitas ach Vanitas! But

      Scheint’s anders - NNZ - 💰 🚧 🙀🥳😡



      “Die gescheiterte Heimholung des Thomas Mann nach Weimar



      Ein bisher unbekannter Brief dokumentiert, wie der Literaturnobelpreisträger der Vereinnahmung durch die DDR widerstand“



      Schade



      unterm—-



      * aus der Lamäng: Zeitungsexemplar leider inne Grabbel (falls jemand Quelle oder sonst behilflich?! Dank im Voraus



      & DK



      Stefan Zweig?

      • @Lowandorder:

        Die Brüder und ihre Beziehung zur DDR:



        "Wallet: Die DDR hatte zu Thomas Mann ein durchaus heikles Verhältnis.



        Gysi: Ja, zu Heinrich Mann war das Verhältnis ungetrübter. Zu Thomas gab es aber immer mehrere Brücken: Er lebte in der Emigration. Er besuchte, als er nach dem Krieg nach Deutschland kam, auch die DDR und wurde im Pkw durchs Land gefahren. "Zufällig" verfuhr man sich und landete in der Thomas- Mann-Straße - nur damit er sehen sollte, dass wir eine Straße nach ihm benannt hatten. Es fuhr mit ihm der damalige zweite Sekretär des Kulturbundes der DDR - mein Vater.



        Kölnische Rundschau, 23. August 2006"



        Quelle dielinkebt.de

  • "Hier spricht ein Autor im Kampfmodus. " Auch das ist Aufgabe von Literatur, wachrütteln, wenn "das Volk" irrt. Das Werkzeug der Sprache einsetzen, gegen diese verbalisierenden Ungeheuer, die den Worten, Taten folgen lassen. Man fragt sich, wo sind eigentlich die deutschen Intellektuellen gewesen, als die AfD in Stellung ging?

  • Ein wirklich großartiger Artikel, vielen Dank!