These über Zukunft der Tageszeitung: Vögel singen hören
Dem Zeitungsjournalismus ist die Lust an der Handlung, die Lust am Verb verloren gegangen. Doch wer die Zeitung retten will, muss wissen, wie Lesen geht.
Krieg da, da und da. Seuchen, Aufstände, Wasserwerfer, Bomben. Überall. Enthauptungen finden auf Bildschirmen in Wohnzimmern statt. Orange ist die Farbe der Rache. Es sind Stichworte zum Aufstöhnen; als Phonem der Schmerz. Wo gestochen wird, gibt es Messer, gibt es Säbel, Bajonette,Verletzungen. Wer will das noch hören? Wer lesen?
Deshalb reichen für Nachrichten nun Schlagzeilen; Verben erträgt niemand mehr. Denn wo Verben sind, gibt es Geschichten. Wo sie fehlen, ist schon Vergangenheit. Der Vormarsch der IS auf die Stadt Ain al-Arab an der syrisch-türkischen Grenze – Marschieren. Die Ausgangssperre in Sierra Leone wegen Ebola – Sperren. Die Raketenabwürfe in und von Gaza und die Wasserwerfer in Hongkong – Werfen.
Die Toten im ukrainisch-russischen Waffenstillstand – Stillstehen. Die Bootsflüchtlinge im Mittelmeer – Flüchten. Handlungen sind Fiktionen, weil alles Zumutungswirklichkeit ist. Niemand liest die Nachrichten mehr zu Ende. Ob zwei Tote oder zweihunderttausend – wer es vernimmt, weiß: Er ist davongekommen. (Willst du noch ein Stück Brot?)
Der Zustand der Welt? In Unordnung. Es gibt Leute, die sagen, das war immer so. Eros ist die Ausnahme, Thatanos, der Todestrieb, nicht. Krieg da und da und da. Seuchen, Gewalt, Aufstände, Bomben. Was sich geändert hat: Alle können es wissen. Die Menschen suchen die Nachrichten nicht, die Nachrichten suchen die Menschen. Nachrichten quellen aus allen öffentlichen Öffnungen, aus Bildschirmen, Lautsprechern, strömen über Lichtwellen, Schallwellen. Nachrichten sind Milch, die überkocht. Mit einem feuchten Lappen werden die Kriege, die Vergewaltigungen, die Vertreibungen, die Krise, die Politikverdrossenheit, die Lügen aufgewischt. Sauerei. Überkochte Milch stinkt.
Während Westkinder erben, gehen im Osten viele leer aus. Wo 25 Jahre nach dem Mauerfall eine neue Grenze verläuft, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 4./5. Oktober 2014. Außerdem: Bevor Schauspieler Udo Kier 70 wird, verrät er, wie er am liebsten sterben will. Und: Kinder an die Leine? „Verstoß gegen die Menschenwürde“ oder „wunderbar und dringend nötig“? Der Streit der Woche. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Im Medienzeitalter wären die Atombombenabwürfe auf Hiroschima und Nagasaki unwirklich. Auf Knopfdruck wiederholbar. Gefilmt worden wäre, wie jemand sich auflöst, nicht nur sein eingebrannter Schatten an der Wand. Guck dir das an, nicht verbrannt, sondern atomisiert. (Sie zieht eine Grimasse, macht sich einen Tee.) Wie roch eigentlich Hiroschima?
Und in so einem Wahnsinn bestehen die Zeitungen weiterhin darauf, dass sie wichtig sind. Dass sie gelesen werden sollen. Dass es sie geben muss. Als was? Hier fangen die Missverständnisse an. Lesen ist Mitmachen.
Trennung von Literatur und Journalismus
Journalismus zieht seine Legitimation aus der Verbreitung von empirisch überprüfbaren Fakten. Dies zumindest kristallisierte sich, meinen Literatur- und Publizistikwissenschaftler, im 19. Jahrhundert mit der zunehmenden Massenverbreitung von Zeitungen so heraus. Literatur und Journalismus wurden getrennt. Erfundenes und Vorgefundenes, Intuition und Profession wurden zu zwei Paar Schuhen. Im einen steckte der Kanon, im anderen steckten Kanonen. Dass die Verbreitung von Fakten allerdings politisch ist, zeigte sich ebenso schnell. Denn wo unliebsame Fakten sind, gibt es auch Zensur. Also Manipulation. Also doch wieder Fiktion. Die Nationalsozialisten perfektionierten die Täuschung bei ihrer Nachrichtenverbreitung und Medienpolitik.
Dass das nie wieder passieren soll, darauf schworen die unabhängigen Zeitungen nach dem Krieg. Diese Überzeugung ist beständig. Dabei haben Journalisten und Journalistinnen von Zeitungen immer mit der Fiktionalität des Faktischen gerungen. In Reportage, Porträts, Essays – Gebrauchsliteratur allesamt – wird ein Geschehen von einem stellvertretend Beobachtenden aufgeschrieben, also subjektiv. Verben kommen in diesen Texten vor und mit den Verben Handlungen. (Der Straßenbauer steht bis zu den Knöcheln im Teer. Er zieht seinen Fuß hoch, der Schuh stößt auf.)
Fakten kommen auch vor. Und das Subjekt des Schreibers, denn er setzt die Informationen nach seinem Gusto zusammen, er wählt aus, lässt weg. Eine Reportage, schreibt die Schriftstellerin-Journalistin Angelika Overath, sei ein von Grund auf erfundener Text. „Ein Film im Kopf“, sagen andere. Wieder andere: Es muss nicht wahr, aber wahrhaftig sein.
Der Zeitungsjournalismus muss sich neu erfinden, wenn er überleben will. So viel ist klar. Nur wie? Schlagworte reichen nicht mehr. Manche setzen in dieser Situation auf Hausbau und Merchandising, die Nachricht wird zum Ding. Wieder andere setzen auf noch mehr Nachrichten, noch schneller, aus noch versteckteren Winkeln. Dritte favorisieren Meinungstexte und die Erklärung der Welt.
Ich, Du, Er-Sie-Es, Wir, Ihr, Sie
Viele hoffen auch, dass Geschichten, dass Reportagen, dass die Begleitung in vorgefundene, kunstfertig nacherzählte Welten, halb literarisch – als wäre das Literarische teilbar – weiterbringen. Aber die Zahl der Leute, die Zeitungen abonnieren, sinkt trotzdem. Zu viel Krieg, Überbevölkerung, Aufstand, Krise, Erderwärmung, Hunger. Da sagen wieder andere: Unterhaltung muss die Zeitung retten. Lebensweltliches, Schönes, das Ich, Du, Er-Sie-Es, Wir, Ihr, Sie. Allein es reicht nicht aus.
Denn mit dem Verlust der Lust auf die Handlung, der Lust auf das Verb, geht die Lust aufs Lesen verloren. Das ist die Leerstelle, die mit Aktionismus nicht mehr gefüllt werden kann. Wer den Journalismus retten will, muss das wissen. Deshalb müssen Texte mehr sein als Information von außen, sie müssen Zwiesprache von innen auch sein, sie dürfen nicht nur führen, sie müssen ent-führen, ver-führen: vom geraden Weg der Vermittlung zum Mäandern der Gedanken. „Lesen ist eine Kunst, der Zwilling des Schreibens“, sagte die Philosophin Helne Cixous kürzlich in einem Interview in der taz, „ein Text ist voller Geheimnisse. Du musst die Vögel in ihm singen hören, in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit.“
Wie zum Lesen ent-führt, ver-führt, wie die innere Tür aufgemacht wird? Das ist die Herausforderung. Bisher hat niemand die Antwort. Kann sein, dass der Journalismus dafür zum Konjunktiv im Indikativ finden muss, zur Möglichkeitsform in der Wirklichkeitsform, vom „So ist es“ zum Vielleicht. Damit ein Dialog entsteht, damit Überraschung entsteht, damit wer, nur ein Beispiel, vom sauberen Krieg liest, nicht die Zahl der Toten sieht, sondern den schmutzigen Frieden.
Damit wer, noch ein Beispiel, vom Gärtner mit den zwei Köpfen liest, sich im Spiegel erkennt. „Soll ich eine Metapher ausstaffieren / mit einer Mandelblüte? / Die Syntax kreuzigen / auf einen Lichteffekt?“, fragt Ingeborg Bachmann in einem ihren späten, verzweifelten Gedichte. Ja, soll sie. Weil so die Tür aufgeht zum Sehen über das Sehen hinaus. Bachmann wollte nicht mehr, sie hatte, als sie das schrieb, für sich schon aufgegeben. Aber sie fordert: „Soll doch. Sollen die andern.“
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