Theologin über Gender und Kulturkampf: „Hetze fällt auf fruchtbaren Boden“
Die Kritiker des Gender-Mainstreaming gerieren sich gern als Opfer. Dabei sind sie diejenigen, die ausschließen wollen, sagt Ruth Hess.
taz: Frau Heß, wollen Sie die Leute umpolen?
Ruth Heß: Klar, wir Gleichstellungsbeauftragten planen den Umsturz der ganzen Gesellschaft. Das kommt von ganz oben.
Von Gott?
Von der diktatorischen EU natürlich. Das ist jedenfalls das Schreckensszenario, das die Genderisten verbreiten.
Sie meinen die Anti-Genderisten?
Nein. Ich sage ganz bewusst Genderisten. Diese Leute wettern gegen einen angeblichen „Gender-Wahn“, gegen eine „Gender-Ideologie“. Dabei sind sie es, die fanatisch „gendern“, die Rollenklischees und Geschlechtsidentitäten ideologisch festschreiben wollen.
In der öffentlichen Debatte werden die Begriffe aber anders verwendet – von beiden Seiten.
Ja, wir gehen oft nicht sorgfältig genug mit unseren Begriffen um. Das machen sich die Genderisten zunutze. Sie kehren ihren Sinn radikal um, verzerren sie, machen sie lächerlich – und können bei all dem leider an manche tatsächlichen Unklarheiten und blinde Flecken anknüpfen.
Dann lassen Sie uns das bitte an dieser Stelle mal klären.
41, Theologin und Gleichstellungsbeauftragte der Bremischen Evangelischen Kirche. Ab August Theologische Referentin am „Evangelischen Zentrum Frauen und Männer“ in Hannover.
Gerne. Das Wort „Genderismus“ geht auf den Soziologen Erving Goffman zurück. Er rekonstruierte, wie Menschen in ihrer alltäglichen Interaktion, also durch soziale Prozesse innerlich und äußerlich vergeschlechtlicht werden. Von ihm stammt das interessante Credo: „Das Geschlecht, nicht die Religion, ist das Opium des Volkes.“
Und „Gender“?
Das war ursprünglich gar kein feministischer Begriff, sondern bezeichnete zunächst das grammatische Geschlecht. Die Sexualwissenschaft hat ihn in den 50er-Jahren aufgegriffen, um ein „biologisches Rohmaterial“ vom soziokulturell konstruierten Geschlecht zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang wurde dann auch das grauenhafte „Management“ von intergeschlechtlich geborenen Kindern, die in die eine oder andere Richtung operiert wurden, theoretisch unterfüttert. Dieses dunkle Kapitel wird jetzt genutzt, um Gender zu diskreditieren und den Eindruck zu erwecken, es gehe dabei um eine gewaltsame Umpolung.
Sie nutzen den Begriff nicht?
Ich spreche tatsächlich lieber von „Geschlechtlichkeit“. Das lässt sich auch nicht so leicht verteufeln, weil es ein deutsches Wort ist, das nicht wie ein Fremdkörper in unserer Sprache wirkt. Und es markiert dennoch einen anderen Blick. Ich kann damit wie durch eine Lupe einen reflexiven Blick auf die Geschlechterdynamiken werfen und sehen, welche Folgen ziehen sie nach sich, positive und negative. Über diese dekonstruktive Wende in den Sozial- und Kulturwissenschaften war es erst möglich, zu untersuchen, wie entsteht unser Alltagswissen von Geschlecht, was ist mit dem Spektrum zwischen den gut bekannten Polen männlich und weiblich. Da zeigte sich schnell, dass Geschlecht eben keine historische und kulturelle Konstante ist, wie viele denken, sondern äußerst variabel.
Viel Kritik gibt es auch am Gender-Mainstreaming.
Ja, das wird oft einfach mit Gender in einen Topf geworfen. Dabei ist Gender-Mainstreaming schlicht ein Instrument, um Chancenungleichheit abzubauen. Da geht es letztendlich darum, Köpfe zu zählen, wie viele Frauen, wie viele Männer hier und dort. Dekonstruiert wird erst mal nichts, im Gegenteil, die beiden Kategorien Frau und Mann werden vorausgesetzt.
Dann ist der Begriff weniger problematisch?
Leider nein. Denn er liefert die Steilvorlage dafür zu sagen, „die Menschen, die Geschlechtergerechtigkeit vorantreiben, sind der Mainstream – und wir, die wir traditionelle Werte hochhalten, stellen uns gegen diesen Mainstream“. Das ermöglicht ihnen, sich als Opfer zu inszenieren und als Widerstand gegen „Political Correctness“, „Tugendterror“, die angebliche Allmacht liberaler Projekte.
Raffiniert.
Ja, sie schaffen es, Ideologiekritik – und nichts anderes ist die Analyse von Gender – als Ideologie darzustellen. Leider haben aber auch manche derjenigen, die mit den Begriffen positiv operieren, sich die konzeptionellen Differenzen untereinander nicht klar genug gemacht. Ob sie geschlechtsbezogene Arbeit unter dem dekonstruktiven Label betreiben oder unter einem liberalen Modell von Gleichheit – und wie das zusammengeht.
Halten Sie die Genderisten für gefährlich?
Ja, weil sie je nach Kontext mit unterschiedlichen Gestalten und Themen ganz verschiedene Gruppen ansprechen. Da wäre Gabriele Kuby, die stark im Rechtskatholischen beheimatet ist und mit vermeintlich seriösen Broschüren ein kirchliches Publikum erreicht. Oder Birgit Kelle, die mit frechem Tonfall eine viel jüngere Zielgruppe anspricht. Oder jemand wie Akif Pirincci, der mit völlig enthemmter Sprache die „große Verschwulung“ propagiert. Auch einige renommierte Feuilletons machen munter mit. Da werden unterschiedliche Register bedient und letztlich die breite Masse erreicht.
Glauben Sie nicht, dass das vorübergeht?
Ich fürchte nicht. In Frankreich ist eine Massenbewegung gegen die „Ehe für alle“ entstanden. In Osteuropa äußern sich einige Bischofskonferenzen knallhart zum Thema Gender. Es lässt sich offenbar sehr gut zur Polarisierung nutzen, das haben ja auch Pegida und die AfD erkannt. Weil viele Menschen verunsichert sind und sich nach Klarheiten sehnen, fällt so eine Hetze auf fruchtbaren Boden – gerade wenn es um unser „Innerstes“ geht, Geschlecht, Sexualität.
Wird dieser Bewegung zu wenig entgegengesetzt?
Personen, die im Gleichstellungsbusiness unterwegs sind, haben sich für die radikale Minderheit lange nicht zuständig gefühlt. Sie waren eher damit beschäftigt, gegen verkrustete Strukturen vorzugehen, indifferente und ignorante Menschen für ihr Anliegen zu gewinnen.
Und damit waren sie nicht erfolgreich?
Doch, natürlich, die Erfolge darf man auch überhaupt nicht kleinreden. Menschen ändern sich durch neue Erfahrungen, Liberalisierung ist kein oberflächliches Phänomen. Und sehr viele Menschen profitieren davon – auch die Kelles und Kubys. Aber ich glaube, dass es dennoch viele gibt, die diese Schritte zu mehr Gleichstellung und Vielfalt innerlich nicht wirklich mitgegangen sind. Bisher haben sie das eher für sich behalten, es gab kein öffentliches Forum, dem sie sich anschließen konnten. Jetzt findet man im Netz T-Shirts mit dem Aufdruck „Gender geht mir auf die NervInnen“.
Genervt sind ja viele, von Lehrer_innen und Polizist*innen und Professorx.
Sprache konstituiert Wirklichkeit. Das beweisen ja gerade die strategischen Begriffsumdeutungen der neuen Rechten. Zum Beispiel „Gutmensch“. Da wird eine Haltung der Hilfsbereitschaft abschätzig gelabelt und damit politisch disqualifiziert. Deshalb finde ich schon, dass man sprachlich sensibel sein muss, aber man kann nicht letztlich alles kontrollieren. Und ich denke, dass negative Überzeugungen und ihre Wurzeln zu sehr im Untergrund wuchern. Vielleicht interessieren mich die Probleme von Intersexuellen gar nicht oder ich finde es okay, dass die heterosexuelle Ehe privilegiert wird. Es gibt aber zu wenig Raum, das angemessen zu besprechen.
Weil es Denk- und Sprechverbote gibt?
Ach nee, gucken Sie doch mal in die Zeitungen und ins Netz, was alles geäußert wird an Ressentiment und Hass. Der Witz ist, dass viele denken, sie dürften etwas nicht mehr sagen, was früher okay war. Aber eigentlich ist es so: Sie haben noch dieselben Vorurteile wie früher, müssen heute aber eben mit Widerspruch rechnen – und das akzeptieren sie nicht. Ich glaube, wir müssen offener und auch kontroverser über die verschiedenen politischen Optionen sprechen, die im Raum stehen, zu denen sich Menschen verhalten können.
Welche Optionen meinen Sie?
Das Interessante an der Genderismus-Debatte ist, dass die Menschen, die Vielfalt falsch finden, die „besorgten Eltern“ zum Beispiel, selten sagen, was sie eigentlich wollen. Das ist bei allen Themen so, die die neue Rechte besetzt hat. Sie sagen vehement, wogegen sie sind, aber nicht klar, welche Position sie haben. Die wabert im Hintergrund – und wird medial auch nicht genügend herausgearbeitet. Zum Beispiel gab es neulich ein Interview in der Zeit mit dem AfD-Vizechef Alexander Gauland. Darin wurde er gefragt, was er gegen Homosexuelle habe.
Und?
Gar nichts – gegen „normale Homosexuelle“. Die Interviewer haben nicht nachgehakt, was er damit wohl meint. Er sagte auch, er wolle sich nicht von der EU vorschreiben lassen, wie er sich gegenüber Transsexuellen zu verhalten habe. Da hätte man ihn doch fragen müssen, wie er sich diesen Menschen gegenüber denn genau verhalten möchte!
Was glauben Sie, ist die Position, die nicht ausgesprochen wird?
Ich glaube, dass der Streit um Sprache, diese polemisch bis hasserfüllte Auseinandersetzung um Gender nur ein Vehikel ist, um ein reaktionäres politisches Projekt voranzubringen: Dem, dass Antidiskriminierung und Gleichstellung vehement zurückgedrängt werden sollen. Diese Leute wollen einfach nicht, dass es mehr lebbares Leben für möglichst viele Menschen gibt. Sie wollen bestimmte Lebensformen bevorzugen, andere benachteiligen. Das ist der politische Antagonismus, um den es geht. Man muss jenseits der Reflexe viel mehr deutlich machen, was tatsächlich auf dem Spiel steht. Und alle müssen sich fragen: In welcher Gesellschaft wollen wir leben – in einer offenen oder einer ausgrenzenden?
Und was ist, wenn die breite Masse die Homoehe als Beispiel tatsächlich ablehnt? Vielleicht ist der Mainstream homophober und sexistischer als er denkt?
Ich frage mich schon, ob man die Büchse der Pandora öffnet, wenn man politisch offener diskutiert. Diejenigen, die das emanzipatorische Projekt vorantreiben, haben ja immer Aufklärung für das beste Rezept gehalten. Wenn man nur genügend erklärt, dann wird jeder Mensch guten Willens bereit sein, sich diesem Projekt anzuschließen. Aber wir haben sicher die unbewussten Kräfte unterschätzt. Es gibt tief sitzende Vorbehalte, Angst vor Macht- und Identitätsverlust.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett