Theodorakis-Vertrauter im Gespräch: „Es war ein Akt des Widerstands“
Asteris Kutulas kennt kommunistische Wirrnis und ist in der DDR aufgewachsen. Dass man dort Mikis Theodorakis hören konnte, ist auch sein Verdienst.
taz: Asteris, weil wir in den 1980er Jahren gemeinsam in Leipzig Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie gehört haben, muss schon das Du sein. In Lehrveranstaltungen bist du damals gern über Metaebenen geklettert, nebenher hast du Künstler von Weltruhm aus dem Griechischen übersetzt. Hast du auch einmal mit einer wissenschaftlichen Laufbahn geliebäugelt?
Asteris Kutulas: Das wäre für mich sicherlich spannend gewesen. Aber ich habe schon in meiner Studienzeit in einer Welt gelebt, die voll von Literatur, Musik, Kunst, Film, Politik, Geschichte und Philosophie war. Diese Welt wollte ich niemals verlassen. Das war und ist mein Leben.
Was ich als Studentin nicht wusste: Du wurdest in Rumänien geboren. Wie hat es deine Eltern dorthin verschlagen?
In Griechenland tobte nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1949 ein blutiger Bürgerkrieg. Die „linken Partisanen“ verloren diesen Krieg, und etwa 60.000 von ihnen, darunter auch meine Eltern, flohen über die albanische, jugoslawische und bulgarische Grenze in die sozialistischen Staaten. Meine Eltern trafen sich in der rumänischen Stadt Oradea. Dort kam ich 1960 in einem Flüchtlingslager zur Welt.
Und unter welchen Umständen kam deine Familie dann 1968 in die DDR?
Der Mensch: Asteris Kutulas wurde 1960 in Oradea/Rumänien als Sohn griechischer Emigranten geboren. 1968 kam er in die DDR, er studierte Germanistik und Geschichte der Philosophie an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Der Autor, Übersetzer, Regisseur, Musik- und Lichtproduzent lebt in Berlin, ist verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn.
Das Tun: Er übersetzte seit 1981 meist zusammen mit seiner Frau Ina Kutulas Werke von griechischen Autoren wie Jannis Ritsos und Giorgos Seferis. Seit den 1990er Jahren ist er als Musik- und Eventmanager tätig, etwa für Mercedes Sosa und Maria Farantouri. Eine besondere Beziehung verband ihn mit Mikis Theodorakis, für den er in der DDR zunächst als Dolmetscher tätig war und für den er ab 1983 über 100 Konzerte weltweit organisierte. Gerade eben hatte sein spezielles Filmprojekt „Electra '21“ zur Musik von Mikis Theodorakis Ende Oktober Premiere bei den 55. Internationalen Hofer Filmtagen, bei denen Asteris Kutulas auch mit dem Hans-Vogt-Filmpreis ausgezeichnet wurde.
1968 gab es eine Spaltung der Kommunistischen Partei Griechenlands. Mein Vater gehörte zu der moskautreuen Fraktion, und die wurde von Rumäniens Staatschef Nicolae Ceaușescu ausgewiesen – das war eine völlig bizarre und surreale Situation. Die moskautreuen sozialistischen Länder beschlossen daraufhin, den Sitz der Partei-Zeitschrift, bei der mein Vater arbeitete, nach Dresden zu verlegen. So zog meine Familie im Sommer 1968 ins „Tal der Ahnungslosen“, wie Dresden damals genannt wurde, weil es die einzige Stadt in der DDR war, in der Westfernsehen nicht empfangen werden konnte.
Als du in Dresden eingeschult wurdest, warst du vermutlich der einzige Schüler mit Migrationsgeschichte …
Nein, es gab seit 1950 in Dresden ungefähr 600 griechische Bürgerkriegs-ExilantInnen. Es gab griechischen Sprachunterricht an einzelnen Schulen. Wir haben griechische Feste gefeiert. Richtig ist, dass es darüberhinaus damals noch keine weiteren Zuwanderer und Zuwanderinnen gab. Die ChilenInnen und die VertragsarbeiterInnen kamen später.
Hast du Rassismus erlebt?
Überhaupt nicht.
Du hast in der DDR mit einer griechischen Staatsbürgerschaft gelebt …
Die habe ich erst 1978 erhalten, vier Jahre nach dem Sturz der Militärdiktatur dort. Vorher hatte ich nur einen Fremdenpass, war staatenlos. Ab 1975 durfte ich einmal pro Jahr meine Heimat besuchen …
Du sprichst von Griechenland als deiner Heimat? Du warst doch zuvor niemals dort …
Bei uns zu Hause wurde nur Griechisch gesprochen, griechische Musik gehört, es wurden griechische Bücher gelesen. Heimat bedeutete für mich wie für viele andere Diaspora-Griechen zwei Dinge: die griechische Sprache und die griechische Kultur. In den sechziger Jahren stießen wir zu Silvester stets mit dem Spruch an: „Und nächstes Jahr in der Heimat!“ Bis zum Sturz der Junta 1974 durften wir ja nicht nach Griechenland einreisen. Ich habe bis heute nur einen griechischen Pass, obwohl ich seit den siebziger Jahren in diesem Dualismus lebe – zwischen meinem deutschen Geist und meiner griechischen Seele.
Warum bist du nie nach Griechenland gezogen?
Tatsächlich war der ursprüngliche Plan, 1984 nach dem Studium nach Griechenland zu ziehen. Aber ein Jahr zuvor lernte ich Ina kennen, die Liebe meines Lebens. So blieb ich bei ihr in der DDR. Wir fuhren jedoch ab 1986 jeden Sommer für vier Wochen nach Griechenland. Tatsächlich haben wir uns seit Ende 1988 aus politischen Gründen mit dem Gedanken befasst, nach Athen umzuziehen. Die Wende kam dazwischen, und wir blieben. Ein paar Jahre später, von 1992 bis 1996, haben wir in Athen gelebt, immerhin vier Jahre. Dann zogen wir wieder nach Berlin.
Welche Vor- und Nachteile hatte es in der DDR, mit der griechischen Staatsangehörigkeit zu leben?
Die Möglichkeit, nach Griechenland zu reisen, war schon ein fundamentaler Vorteil. Später durfte ich auf Einladungen hin auch auf Lesereise nach Westberlin gehen, um meine Bücher vorzustellen. Ich muss aber sagen, dass die Westreisen in meinem Umfeld nicht so ins Gewicht fielen: Meine Gymnasialzeit verbrachte ich an der Dresdner Kreuzschule. Die Hälfte der Jungen in meiner Klasse sang im Kreuzchor und war auf Konzertreisen im Westen unterwegs. Und Nachteile? Mir fällt kein Nachteil ein. Es war eine für mich inspirierende und sehr spannende Zeit.
Gab es politische Grenzen, die dir in der DDR gesteckt wurden. Grenzen, die du nicht überschreiten konntest?
(überlegt) Als ich als Schüler von einer Griechenlandreise in die DDR zurückfuhr, wurde mir bei einer Grenzkontrolle aus meinem Reisegepäck der Roman „Der Archipel Gulag“ des sowjetischen Dissidenten Alexander Solschenizyn abgenommen. Ich habe nicht eingesehen, warum diese DDR-Polizeibeamten das Recht hatten zu entscheiden, was ich lesen durfte und was nicht. Ab 1987 habe ich gemeinsam mit meiner Frau Ina die Buchreihe „Bizarre Städte“ im Selbstverlag herausgegeben. Wir durften nach DDR-Recht maximal 100 Exemplare pro Buch drucken. Immerhin schufen wir uns damit eine kleine Öffentlichkeit. Aber selbst diese kleinen „Öffentlichkeiten“, von denen es in der DDR mehrere gab, versuchte die Stasi zu kontrollieren und in ihrem Sinn zu beeinflussen. Ein beliebtes Mittel war es, über jeden das Gerücht zu streuen, er sei Mitarbeiter der Stasi. Wir haben schließlich beschlossen, uns davon nicht beeindrucken zu lassen.
Schon in deiner Studienzeit hast du dich als Vermittler zwischen der deutschen und griechischen Kultur engagiert. Warum war es dir wichtig, griechische Kultur in der DDR bekannt zu machen?
Der Zufall wollte es, dass ich 1980 drei Persönlichkeiten kennenlernte, die mit ihrer zutiefst humanistischen Haltung mein Leben prägten. Nämlich den damals bereits verstorbenen chilenischen Dichter Pablo Neruda, den ich durch sein Poem „Canto General“ kennenlernte, sowie Mikis Theodorakis und Jannis Ritsos. Denen begegnete ich 1980 erstmals auch real. Ihnen gemeinsam war, dass sie einen utopischen Kommunismus vertraten, dessen Mittelpunkt die absolute Freiheit des Einzelnen in einer basisdemokratischen Gesellschaft war. Das deckte sich damals mit meinem Ideal und stand im Gegensatz zur sozialistischen Staatsdoktrin der DDR, die ein diktatorisches und kleinbürgerliches System aufgebaut hatte. Das Werk von Mikis Theodorakis und Jannis Ritsos atmete dagegen Freiheit. Auch das hat mich veranlasst, ihre Kunst in der DDR bekannt zu machen. Das mag heute etwas schräg klingen, war aber damals für mich so etwas wie ein Akt des Widerstands.
Du warst dem vor Kurzem verstorbenen Komponisten Mikis Theodorakis in mehrfacher Hinsicht ein Begleiter: als Dolmetscher, Manager, Produzent, sein Freund. Wo bist du ihm zum ersten Mal begegnet?
1980 in Berlin. Im Palast der Republik wurde sein „Canto General“, seine Komposition zu den Gedichten Nerudas, aufgeführt. Es war sein erster Besuch in der DDR, und ich war Dolmetscher von Maria Farantouri, der Interpretin des Werkes. Ein Jahr später wurde ich sein Dolmetscher, und ab da war ich auch in allen organisatorischen und künstlerischen Belangen Dutzender Konzerte und Tourneen involviert.
Mikis Theodorakis wurde die prägende Erfahrung deines Lebens?
So ist es. Mikis Theodorakis hat mich 40 Jahre mit seinem anarchischen Geist und kompromisslosen Künstlertum inspiriert und tief geprägt. Ich fühle mich gesegnet, mit ihm bei so vielen Projekten zusammengearbeitet zu haben. Noch im Juli, sechs Wochen vor seinem Tod Anfang September, habe ich mit Mikis an „Electra '21“ gearbeitet, einem neuen Showformat, in dem vier Filme, synchronisiert mit derselben Musik, parallel laufen und so ein polydimensionales Sehen ermöglichen. Mikis hatte da gesagt, dass er die Uraufführung Ende Oktober bei den Hofer Filmtagen nicht mehr erleben würde, und hatte sich mit den Worten von mir verabschiedet: „Ich werde den besten Platz haben und euch von oben zusehen.“
In der DDR war Theodorakis in den 1970er Jahren verboten. In den 1980er Jahren fanden dort hingegen mehrere Welturaufführungen seiner Werke statt. Welches Verhältnis hatte er zur DDR?
Seine „Karriere“ in der DDR hatte Mikis dem Engagement des Musikkritikers Peter Zacher zu verdanken. Dieser versuchte seit 1975, den „Canto General“ in der DDR aufführen zu lassen, und hatte 1980 endlich damit Erfolg. Durch sein Netzwerk innerhalb der Musikszene kamen in der DDR weitere Uraufführungen sinfonischer Werke zustande. Mikis Theodorakis hatte allerdings ein ambivalentes Verhältnis zur DDR. 1981 fragte er mich auf den Kopf zu: „Asteris, wie kannst du in diesem Land leben?“ Ich war völlig überrascht, und er sagte: „Ich wäre hier entweder im Gefängnis oder tot.“ Auf der anderen Seite liebte Mikis das großartige Publikum in der DDR. Und er schätzte es sehr, mit den fantastischen Orchestern, Solisten und Dirigenten zusammenzuarbeiten.
Viele Jahre später, 2003, hast du für den späteren US-Präsidenten Donald Trump ein Lichtkunstevent in Atlantic City produziert. Wie kam es dazu?
Ich habe ab 1999 mit dem Lichtkünstler Gert Hof ein damals völlig neues Showformat erfunden, die Outdoor-Lichtshow. Entertainment durch Lichtarchitektur am Himmel. Gert Hof war der Künstler, ich der Produzent. Die erste Show machten wir zur Millenniumsfeier an der Berliner Siegessäule mit Mike Oldfield und der Staatskapelle St. Petersburg auf der Bühne.
Ich erinnere mich. Es gab damals Kritik wegen Ähnlichkeiten zum Lichtdom von Albert Speer.
Aber nur im Vorfeld! Nach unserem Event hat das überhaupt keine Rolle gespielt. Das zeigt, wie dumm diese „Sorge“ war.
So abwegig ist der Vergleich doch nicht: eine Massenveranstaltung mit Licht ausgerechnet an der Berliner Siegessäule?
Weil Herr Speer etwas benutzt hat, darf man es die nächsten tausend Jahre nicht mehr benutzen? Warum sollen wir den Nazis die Kunstform Licht schenken? Wir haben mit unseren Events das Medium Licht den Nazis weggenommen und es der Kunst und der Menschheit wieder geschenkt. Wie erfolgreich wir darin waren, siehst du daran, dass inzwischen die Strahlenästhetik von Hof in jeder Fernsehsendung und in jedem Pop/Rock-Konzert zu sehen ist.
Aber wie kam es zu dem Auftritt bei Donald Trump?
Wir hatten durch unser Showformat eine neue Art von Entertainment für Hunderttausende von Menschen geschaffen. Die PR-Verantwortlichen von The Trump Organization hatte von unseren Lichtshows in Berlin, Peking und an vielen anderen Orten gehört. Sie fragten uns an. Wir haben in Atlantic City eine ganze Woche eine Mega-Lichtshow für die ganze Stadt zur Musik von Bruce Springsteen gemacht und damit mehrere Trump-Ressorts miteinander verbunden. Die Amis sind total darauf abgefahren.
Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit Trump?
Die gab es mit ihm persönlich gar nicht. Er kam mit seinem Hubschrauber aus New York geflogen und hat sich sehr amüsiert. Damals war Trump politisch noch nicht in Erscheinung getreten.
Und deine Kunst, was ist da demnächst zu sehen?
Im Januar kommt mein Film „Recycling Medea“ in die Kinos. Ich habe Regie geführt und zusammen mit meiner Frau das Drehbuch geschrieben. In der Arte-Mediathek kann man noch bis Ende November unseren Film „Mikis Theodorakis – Komponist“ sehen. Und auf Streamingplattformen gibt es unseren Film „Dance Fight Love Die“. Der entstand, weil ich Mikis seit 1987 mit meiner Kamera, mit dieser Kamera hier (er zeigt auf das Gerät neben ihm auf dem Tisch), begleitet habe und ziemlich viel aufgenommen habe, in ganz Europa, den USA und so weiter. Ich habe das eher für mich getan, um die künstlerische Energie festzuhalten, die mich umgab. Ina hat mich später davon überzeugt, aus dem Material einen Film zu machen.
Du erwähntest deine Kamera. Ich habe den Eindruck, sie ist sehr wichtig für dich?
Ja. Ich habe sie 1989 gekauft. Sie hat mein Denken visualisiert. Ursprünglich habe ich Tagebuch und Gedichte geschrieben. Durch die Kamera habe ich ganz anders sehen gelernt, habe zum Film und zur Konzeptkunst gefunden.
Und die Philosophie? Hast du dein Wissen für deine Tätigkeit produktiv machen können?
Ja, sehr. Wenn ich etwa an den 1989 in der DDR und 1990 in der Bundesrepublik von mir herausgegebenen Essay-Band des Literaturnobelpreisträgers Giorgos Seferis, „Alles voller Götter“, denke – ohne vorher die Vorlesungen zur antiken griechischen Philosophie bei Helmut Seidel erlebt und mich damit auseinandergesetzt zu haben, hätte ich mich da wohl nie herangetraut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene