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Theaterstück „Die Abweichlerin“Die Depression ist eine anstrengende Tante

Im Stück „Die Abweichlerin“ nach Tove Ditlevsen am Hamburger Schauspielhaus verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Wahnsinn weich und mühelos.

Ob die Protagonistin reale Figuren trifft oder eingebildete, bleibt unklar: Szene aus „Die Abweichlerin“ Foto: Lalo Jodelbauer

Hamburg taz | „Es gibt mehr Grund zur Trauer über mein Leben als über meinen Tod.“ Das ist der letzte Satz in Karin Henkels Inszenierung „Die Abweichlerin“ am Hamburger Schauspielhaus. Und das ist einer der letzten Sätze von Tove Ditlevsen. Er stammt aus ihrem Abschiedsbrief.

Anfang März 1976 hatte die dänische Schriftstellerin (1917–1976) eine Überdosis Schlaftabletten genommen. Gelassen und ruhig spricht Lina Beckmann diese Worte, bevor sie die Bühne ins hintere Dunkel verlässt. Da ist kein Selbstmitleid in ihrer Stimme, keine Spur von Vorwurf oder Anklage.

Mehr als zwei Stunden lang hat die Schauspielerin bis dahin aus Ditlevsens Leben erzählt. Eindringlich und einsam, abgründig und heiter, tieftraurig und aufgeputscht schrill. Hat Einblicke gegeben in Ditlevsens Biografie und in ihrem letzten, 1975 erschienenen autofiktionalen Roman „Vilhelms Zimmer“, der dieser Aufführung zugrunde liegt.

Immer wieder sind dabei die Grenzen verschwommen zwischen Autorin, Erzählerinnen-Ich und einer gewissen Lise Mundus, der Protagonistin jenes Romans. Auch sie ist Schriftstellerin, psychisch krank und wurde gerade von ihrem Mann verlassen.

Das Stück

Die Abweichlerin: wieder am 16. 4., 20 Uhr, sowie 30. 4., 10. und 23. 5., 23. 6. und 5. 7., jeweils 19.30 Uhr, außerdem 1. 6., 16 Uhr, Deutsches Schauspielhaus Hamburg

Nach und nach treten die Romanfiguren auf: Ex-Mann, Geliebte, Sohn, Nachbarin, Hausdame und Untermieter. Ob es sich dabei um reale Figuren handelt oder um Begegnungen während der psychotischen Zustände der Erzählerin, bleibt offen.

Beckmann bringt sie wie eine Puppenspielerin in Bewegung. Zwischen losen Manuskriptseiten, einem Rednerpult und den Schau­spiel­kol­le­g*in­nen geht sie vermeintlich ordnend hin und her. Sie verschiebt Kulissen, bedient in die Seitenwände eingelassene Tonbänder, zieht Requisiten aus seitlichen Wandklappen und auch mal einen Darsteller (Mirko Kreibich als herrlich verlorener Untermieter).

Sie verschmiert Lippenstift im Gesicht des Kollegen Matti Krause, malt ihm Augenringe, damit er die Rolle der misstrauischen Nachbarin und der strengen Hausdame übernehmen kann.

Dann reicht sie ihrem selbstgefälligen Ex-Mann Vilhelm (Daniel Hoevels) einen Schmerbauch, zuppelt am Kleid von dessen neuer Geliebter (großartig dauermunter: Linn Reusse) und trägt die Tänzerin Liina Magnea in ein Eisengitterbett, wo diese furchtsam reglos Lise Mundus’ schier endlose Zeit in der Psychiatrie veranschaulicht.

„Ich bin alle zugleich“, sagt Lina Beckmann mit stolzer Sachlichkeit, als sie ihre Anordnung betrachtet. Dann öffnet sie eine Dose 7up, schluckt eine Handvoll Tabletten und spricht über ihre psychische Krankheit, so, als wäre sie eine anstrengende Tante, der man immer wieder bei Familienfesten begegnet.

Ein Leben voller Amplituden

In fein gebauten, atmosphärisch dichten Mini-Szenen – mal als comic-relief mit wenigen papiernen Requisiten, mal im fehlgelben Krankenhauslicht, mal als überzeichnete Karikatur, mal als inniges Mutter-Kind-Gespräch, mal als tragikomische Situation, mal als surreale Traumsequenz – gibt Henkel Einblicke in das Leben und Innenleben ihrer Hauptfigur.

Mit großer Tiefe und doch mit einer unfassbaren Leichtigkeit spielt Beckmann diese, ist nicht nur Ex-Frau, Mutter, Schriftstellerin, sondern auch Tove Ditlevsen, Ich-Erzählerin und Lise Mundus.

Mit jedem einzelnen Satz lotet sie, mal fragend, mal schmunzelnd, mal rettungslos einsam, ein Leben voller Amplituden aus. Mühelos, weich, fast unmerklich gleitet sie zwischen Alltag und Krankheit, zwischen Entschlossenheit und Verletzlichkeit und zwischen jenen drei Persönlichkeiten hin und her, lässt sie zu einer einzigen verschmelzen, um gleich darauf mit zwei, drei schnellen Schritten Abstand zu nehmen.

„Ich weiß nicht, wohin mich meine Fantasie treibt“ und „Jetzt habe ich völlig die Orientierung verloren“, sagt sie ein ums andere Mal. Hell, fast kindlich verwundert klingt ihre Stimme dann, eine Handvoll Tabletten und einen Schluck 7up später hat sie sich wieder gefasst.

Herausragende Lina Beckmann

Drei karg ausgestattete Schaukästen hat Barbara Ehnes nebeneinander auf die Bühne gestellt, ein klug gedachtes Triptychon, auf dessen Mini-Bühnen das Erzählte re-enactet wird, und das sich nach Bedarf weg- und zuschieben lässt. Dann flirren schwarzweiße, naive Scribbles über die Wände.

Sie erinnern an William Kentridges Arbeiten und an Roger Ballens verstörende Fotoserie „Asylum of the Birds“. Später sieht man kontrastreiche Stills von Baumkronen, die alles andere als wohliges Waldbaden meinen (Video: Chris Kondek); die dräuende Soundkulisse von Arvild J. Baud tut ihr Übriges.

Prägnant und konzentriert gelingt Henkel hier ein so melancholischer wie nachdenklicher Abend, der in einem großen, ruhigen Atem von jener „Abweichlerin“ erzählt, die so gar nicht in ihre Zeit passte, von deren Verzweiflung und Depression, aber auch von deren Wortwitz und scharfen Verstand. Ein Abend, der lange nachhallt, dank einer herausragenden Lina Beckmann und eines präzise agierenden Ensembles, aber auch dank seiner entwaffnenden Empathie.

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