piwik no script img

Testkapazität in GroßbritannienIm Corona-Teufelskreis

Mangels ausreichender Corona-Tests sitzt ein erheblicher Teil des britischen Gesundheitspersonals in Selbstisolation. Die Todeszahlen explodieren.

Eine Mauer in Belfast: Hier wird der Sieg des Öffentlichen Gesundheitssystems NHS heraufbeschworen Foto: Peter Morrison/ap

LONDON taz | „Durcheinander“ schlagzeilen die einen, „550.000 Krankenhauspersonal und nur 2.000 getestet“ die anderen. Wenn in Großbritannien der Labour-treue Daily Mirror und die stramm konservative Daily Mail am gleichen Tag ähnliche Boulevardtitel drucken, ist das kein gutes Omen für eine britische Regierung. Was ist das Problem? Die Coronavirustests. Premier Boris Johnson hatte vor drei Wochen 25.000 pro Tag angekündigt, noch immer ist es weniger als die Hälfte. Und die Covid-19-Todeszahlen steigen schnell.

Nach Angaben der englischen Gesundheitsbehörde PHE (Public Health England) liegt die Testkapazität in England bei täglich 12.799. Aber nicht einmal diese Kapazität wird voll ausgeschöpft. Am Dienstag wurden laut Gesundheitsministerium in ganz Großbritannien 10.215 Tests durchgeführt. Insgesamt wurden seit Beginn der Pandemie nur etwas über 163.000 Briten auf das Coronavirus getestet, darunter ganze 2.000 Angestellte des nationalen Gesundheitsdienstes NHS.

180.000 der insgesamt rund eine Million NHS-Angestellten in Großbritannien befinden sich derweil als Verdachtsfälle in Selbstisolation. Laut einem NHS-Direktor könnten bei ausreichenden Tests 85 Prozent davon wieder im Einsatz sein. So arbeitet das Gesundheitswesen weit unterhalb seiner Kapazität – gerade jetzt, wo sich die Situation zuspitzt.

Am Donnerstag meldeten die Gesundheitsbehörden knapp 34.000 Infizierte und insgesamt 2.921 Tote – am Dienstag waren es noch 1.789 gewesen. Die Zahlen geben jeweils den Stand von 17 Uhr zwei Tage zuvor wieder. Täglich starben Anfang dieser Woche demnach über 500 Menschen in Großbritannien an Covid-19.

30.000 fehlende Beatmungsgeräte

Was die ungenügenden Tests betrifft, fragten sich viele, wo das Problem liegt, denn an kompetenten Laboren mangelt es in Großbritannien nicht. Vielmehr fehlt es an einigen chemischen Rohstoffen und auch an organisatorischer Flexibilität.

So wurde auf Angebote kleinerer Labore, etwa aus der Veterinärmedizin, die normalerweise nicht mit dem NHS zusammenarbeiten, nicht oder viel zu spät reagiert. Auf Tests wartende Personen wurden wieder weggeschickt, weil sie keine gebuchten Termine hatten, während ein riesiges neues Drive-in-Testzentrum für NHS-Personal am Mittwoch den ganzen Tag fast leer blieb.

Nicht nur deswegen steckt die Regierung in Erklärungsnöten. Am Wochenende verzeichneten manche Krankenhäuser einen Mangel an Sauerstoffreserven. Schon vorige Woche wurden die Behörden damit konfrontiert, dass es zu wenig Schutzkleidung für Krankenhauspersonal gibt, sowie mit der Frage, wo Großbritannien die benötigten 30.000 Beatmungsgeräte herholen soll. Letztere werden nun durch ein Unternehmenskonsortium hergestellt, unter anderem aus der Autoindustrie.

Minister und Beamte antworten auf konkrete Fragen oft mit unspezifischen Versprechen

Dass Minister und hohe Gesundheitsbeamte konkrete Fragen oft nur mit unspezifischen Versprechen beantworten, erklärt die bösen Schlagzeilen. Tests und Rohstoffe seien unterwegs, heißt es, oder man arbeite daran. Am späten Mittwochabend schließlich versuchte der mit dem Coronavurus infizierte Premier höchstpersönlich die Lage zu retten, per Videobotschaft aus seiner Selbst­isolation in Downing Street. Er setze alles daran, mehr Tests zur Verfügung zu stellen, sie seien die „Auflösung des Corona­viruspuzzles“, sagte Boris Johnson.

Es drohen warme Ostertage

Gesundheitsminister Matt Hancock, frisch aus der eigenen Selbstisolation, will nun einen Fünfpunkteplan vorstellen. Darunter wird nun auch endlich Zusammenarbeit mit allen möglichen Laboren erwartet. Auch die Behandlungskapazitäten des NHS werden im Eilverfahren aufgestockt. Am Donnerstag öffnete im Londoner Excel-Messezentrum das „Nightingale-Krankenhaus“ seine Pforten, ein von der britischen Armee in zehn Tagen aufgestelltes Lazarett mit 4.000 Betten.

Beruhigend ist lediglich, dass die scharfen Ausgangsbeschränkungen offenbar greifen. Laut einer neuen Studie des Londoner Hygiene- und Tropeninstituts sind soziale Kontakte in Großbritannien um 73 Prozent zurückgegangen, die Übertragungsquote des Coronavirus sei auf unter 1 gesunken. Doch es drohen warme Ostertage. Yvonne Doyle von PHE warnt, langsam steige der Autoverkehr wieder an.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • "Vielmehr fehlt es an einigen chemischen Rohstoffen ..."



    Das war lediglich eine Schutzbehauptung, der ziemlich schnell widersprochen wurde. Was in GB fehlt sind die privaten Labore. Während die in Deutschland Sonderschichten fahren, wurden die von NHS-Spitze und Regierung komplett ausgebremst, die Tests "aus Qualitätsgründen" nur innerhalb des NHS haben wollten.



    Wir jammern in Deutschland oft und oft zurecht über die Nachteile föderaler Strukturen - beim NHS sieht man den Nachteil von zu stark zentralisierten Strukturen, die keinen Wettbewerb zulassen.