Terror in Iran: Ende der politischen Naivität
Es gibt Solidarität mit den Protestierenden in Iran und den Willen, die Verbrechen des Mullah-Regimes zu untersuchen. Aber das reicht nicht.
Die letzten Tage muss ich immer wieder an die Zeilen eines Gedichts der in Odessa geborenen Dichterin Anna Achmatowa aus ihrem „Requiem“ denken. Über drei Jahrzehnte schrieb Achmatowa an diesem Gedichtzyklus, in dem sie die Opfer des stalinistischen Terrors beklagt. Der Band durfte erst nach zwei Jahrzehnten 1987 in der Sowjetunion erscheinen.
In der Zeit des Stalin-Terrors wurde Achmatowas erster Mann als „Konterrevolutionär“ diffamiert und erschossen, ihr enger Freund, der Dichter Ossip Mandelstam, in ein Lager deportiert, in dem er später verstarb, und ihr Sohn verhaftet und ebenfalls ins Gulag geschickt. Jahrelang stand Achmatowa in der Schlange neben anderen Frauen und Müttern vor den Leningrader Gefängnistoren. Sie alle hofften, etwas über den Verbleib ihrer Liebsten zu erfahren:
„Ich kannte viele früh gewelkte Frauen
Von Schrecken, Furcht, Entsetzen ausgeglüht.
Des Leidens Keilschrift sah ich eingehauen
Auf Stirn und Wangen, die noch kaum geblüht.“
Heute, Jahrzehnte später, sehe ich auf Twitter Videos von Müttern, die im Iran vor den Toren der Gefängnisse stehen, in denen ihre Kinder gefangen gehalten und gefoltert werden. Etwas in diesen Videos hat mich an die Beschreibung des Terrors, der Hilflosigkeit in Achmatowas Zeilen erinnert.
Saktionen reichen nicht
Seit einer Woche kommen hier in Deutschland Nachrichten von brutalen Angriffen in der kurdischen Stadt Mahabad im Nordwesten Irans an. Polizei- und Sicherheitskräfte sollen mit Panzern einmarschiert sein und wahllos auf friedliche Demonstrierende geschossen haben. Videos von Augenzeugen, die sich in den Sozialen Medien verbreiten, lassen Schreckliches erahnen. Die Nachrichten, die Aktivist:innen aus der Region bekommen und mit uns teilen, werden von Tag zu Tag verstörender.
Das Regime eskaliert die Lage – ganz bewusst in den kurdischen Gebieten des Landes – nur um sie als Spalter darzustellen und den gesamten Protest damit zu delegitimieren. Die Protestierenden aber lassen sich davon nicht einschüchtern. Mich berührt es, mit welcher Stärke und Ausdauer die Menschen trotz allen Leids, trotz der Toten und der Gewalt der vergangenen zwei Monate und der Unterdrückung und Gewalt all der vorangegangen Jahre weiter für das freie Leben auf die Straße gehen. Kommt das hier bei den meisten Menschen, bei unseren Politiker:innen überhaupt an?
Klar, kann man jetzt sagen, es gibt ja Solidarität: Tausende Menschen haben auf den Straßen in Deutschland bereits gezeigt, dass sie an der Seite der Protestierenden im Iran stehen. Auch politisch ist das Thema auf der Agenda. Kanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock haben die Menschenrechtsverletzungen im Iran kritisiert. Im UN-Menschenrechtsrat hat Baerbock am Donnerstag dafür geworben, die Verbrechen zu untersuchen und aufzuarbeiten. Auch im Bundestag waren die Proteste Thema (auch wenn das Regime dort als „konservativ und autoritär“ verharmlost wurde). Und ja, Deutschland und die EU haben Sanktionen auf den Weg gebracht. Angesichts des Ausmaßes der Gewalt des Mullah-Regimes reicht das aber nicht. Wann zum Beispiel werden die Revolutionsgarden auf die EU-Terrorliste gesetzt?
Gerade erst traf sich der Kanzler mit Aktivistinnen und Journalistinnen, um über den Iran zu sprechen. Scholz habe zugehört, erklärte die Kollegin Gilda Sahebi, die dabei war. Zuhören kann er also, unser Kanzler. Jetzt muss er beweisen, dass er auch handeln kann.
Deutschland und die EU haben sich jahrelang naiv gegenüber dem iranischen Regime verhalten. Sie haben ein menschenverachtendes System toleriert. Jedes Menschenleben, das gerade durch das iranische Regime beendet wird, ist eines zu viel.
Leser*innenkommentare
Anna Deiport
" vorher stritten sich Russen und Briten um ihre Kolonie Persien"
Falsch. Iran war nie eine Kolonie werder don Briten noch von den Russen gewesen. Iran war während des zweiten Weltkriegs von denBriten und Russen besetzt. Die Russen waren im Norden und die Briten im Süden. Ein typische Kolonie wie Indien, die unter britischer Herrschaft stand, war Iran nie gewesen. Im übrigen, es ist auch kein Wunder, dass gerade diese beiden Länder im Iran ziemlich verhasst sind.
felix
@Anna Deiport Stimmt, da war ich zu oberflächlich. Aber dass Iran und Irak zu den ältesten Ländern gehören, dazu sind wir uns sicher einig - und wie alt ist das Land dass beiden und der restlichen Welt ständig Vorschriften machen will ?
Im Frieden und mit gutem Miteinander überall und weltweit, können wir gemeinsam alles verbessern, aber nicht mit Vorschriften einer Minderheit.
O.F.
"Sie haben ein menschenverachtendes System toleriert."
Das ist nicht nur eine haarsträubend vereinfachende Darstellung Irans (wieso gerade angeblich progressive Milieus auf solche Vereinfachungen setzen, erschließt) sich mir nicht, sondern auch eine gerade zu kolonialistische Vorstellungen deutscher Außenpolitik: es ist schlichtweg nicht unsere Aufgabe, als moralisch-politischer Zuchtmeister aufzutreten und darüber zu entscheiden, ob die Systeme in anderen Länder "zu tolerieren" sind. Iranische Politik ist eine innere Angelegenheit Irans - und das heißt eben auch, dass die Iraner (die keineswegs nur aus Oppositionellen bestehen) ihre Konflikte unter sich lösen müssen. Dass man das 2022 noch diskutieren muss, finde ich befremdlich (und zwar sowohl aus ethischen als auch aus rein machtpolitischen Gründen - dass ein rasant an Macht verlierendes Europa nach wie vor so großspurig auftritt, ist vor allem vermessen).
Volker Scheunert
@O.F. Sie erinnern mich an den Erzieher, der dem um Hilfe vor dem Bully bittenden Kind sagt: "Das muesst Ihr unter Euch loesen." Was fuer ein Ausbund an Humanitaet Sie doch sind...
felix
Aus eigener Erfahrung möchte Mal meinen ganz kurzen Überblick zum Iran abgeben, zurückhaltend damit er veröffentlicht wird.
Von 1941 bis 1979 war Mohammad Reza Pahlavi der letzte iranische Schah, durch Unterstützung der USA, vorher stritten sich Russen und Briten um ihre Kolonie Persien.
Als der Schah/König das Interesse und die Unterstützung der USA verloren hatte, wurde er gestürzt und der Islamische Staat gegründet.
Seit dieser Zeit wird er vom Westen bekämpft, wie viele andere Länder.
Würde man sich wie in einer Welt mit Frieden und gutem Miteinander mit dem Iran auseinandersetzen, könnte man am ehesten zu einer Verbesserung der Situation beitragen.
Socrates
@felix Nicht aus eigener Erfahrung, aber eine andere Sicht der Dinge:
Der Iran könnte seine Beziehungen zu anderen Ländern deutlich verbessern und die Sanktionen loswerden es müsste nur:
-NICHT nach Atomwaffen streben
-NICHT Terrororganisationen wie die Hezbollah und Milizen in anderen Ländern unterstützen
-NICHT das Assad-Regime unterstützen
-NICHT Israel zerstören wollen
-NICHT Russland mit Drohnen und sonstigen Waffen beliefern.
In heutiger Zeit eine beneidenswerte Situation, durch reines NICHTSTUN die wirtschaftliche und außenpolitische LAge verbessern zu können.
felix
@Socrates Ich schätze Ihre Meinung allgemein, aber hier argumentieren Sie, aus meiner Sicht, ein bisschen zu einseitig.
Aus meiner Sicht könnte man unsere Welt verbessern, wenn man im Frieden und gutem Miteinander überall und weltweit gemeinsam zusammenarbeiten würde.
Damit kann man alles verbessern, und das wäre gut für alle Menschen und Länder.
Jim Hawkins
Danke für den Kommentar.
Die Politik, wie auch die herkunftsdeutsche Zivilgesellschaft tun zu wenig bis gar nichts.
Ist man auf einer Solidaritätsdemonstration, kommt man sich vor wie ein Paradiesvogel.
Da vergeht schon mal eine Stunde, bis man eine andere Kartoffel entdeckt.
Axel Schäfer
@Jim Hawkins Vorweg, meine Frau ist aus dem Iran, vor über zwanzig Jahren hierher gekommen, sie musste nicht fliehen.
Da sie dort viele Verwandte hat ist die derzeitige Situation Dauerthema und wir bekommen auch viele Informationen von dort auf direktem Weg.
Solidaritätsbekundungen und Demonstrationen sind sicher eine starkes Zeichen und die Demo in Berlin hat die Menschen dort beeindruckt. Das alles bleiben aber nur Symbole, die die Machthaber dort wenig beeindrucken, so lange noch ein Gutteil der Wirtschaftsbeziehungen laufen. Daran verdienen die Revolutionsgarden immer mit, sei es über Firmenanteile oder über Korruption. Ein wirklicher Wirtschaftsboykott und das schliessen der deutschen Auslandsvertretung dort wäre ein Zeichen, denn unter dem Deckmantel von irgendwelchen Geschäftsreisen lässt man die mittelbaren Regimevertreter hier weiter fröhlich ein und ausreisen.
Ansonsten sollten vielleicht auch mal die Gewerkschaften in Europa und insbesondere der DGB versuchen die Arbeiter dort zu unterstützen sich zu organisieren, denn flächendeckende Streiks würden das Regime eher treffen.
Socrates
@Axel Schäfer Der Iran Stand im Jahre 2021 an 61. Stelle der Exporthandelspartner Deutschlands (noch hinter Belarus) mit einem Handelsvolumen von 1,44 Mrd.€. Bei den Importen an 84. Stelle mit knapp 314 Mill.€. An 60. Stelle der gesamten EU, Exportvolumen 3,941 Mrd. Euro, Importe 922 Mill.€.
Umgekehrt steht Deutschland bzw. die EU an vielleicht 4-5. Stelle der Handelspartner, der wichtigste ist aber China, mit einem Exportvolumen von 18,7 Mrd.$ und Importen von 9,76 Mrd.$. Das Volumen ist also über das 5-Fache des gesamten EU-Handelsvolumens.
Meinen Sie die iranischen Machthaber lassen sich durch ein Wirtschaftsboykott und das Schließen der deutschen Auslandsvertretung beeindrucken?
Der Iran ist zu weit entfernt, zu wenig mit Europa wirtschaftlich verbunden, als dass solche Maßnahmen irgendetwas bewirken könnten.
Haben Sie sich jemals gefragt, warum tyrannische Regime die Menschenrechte einschränken und Menschenrechtsaktivisten, Kritiker und Journalisten in Gefängnisse stecken?
Die Antwort ist: weil sie vom Regime als existenzielle Bedrohung wahrgenommen werden.
Wenn man sich dessen erstmal bewusst wird, dann wird einem ziemlich schnell klar, dass dies die letzten Dinge sind, in denen diese Regime nachgeben werden.
Das ist eine Art Gesetzmäßigkeit.
Ermahnungen von noch so hochrangigen ausländischen Spitzenpolitikern, der Presse, Aktivisten, Proteste aus dem Ausland, Boykotte und Einschränkung der diplomatischen Beziehungen bringen deshalb fast nie etwas. Auch das bleiben letztlich nur Symbole, leere Zeichen.
Sinnvoller klingt es da schon wirklich die Protestler organisatorisch und direkt zu unterstützen, dazu ist aber eine Bewegungsmöglichkeit von Geld, Personen und Informationen eine Voraussetzung.
Boykotte verschlechtern wahrscheinlich die Situation eher: dadurch verringern sich nämlich die Kontakte zwischen In- und Ausland, und damit auch der Informationsfluss: so bekommt das Ausland weniger ein Bild davon, was im Iran abläuft, und das Regime kann noch härter vorgehen.
O.F.
@Axel Schäfer Ihnen ist bewusst, dass eine Schließung der deutschen Vertretungen im Iran vor allem eines bedeuten würde: der ganz normale Iraner hätte immense Schwierigkeiten, noch ein Visum zu bekommen (nicht die Eliten, denen ganz andere Wege offen stehen) - d.h. kein Studium mehr im Ausland, keine Familienbesuche... wem bitte schön ist damit geholfen (außer hiesigen Stammtischen)?
Jim Hawkins
@Axel Schäfer Danke für ihren Beitrag.
Sie haben natürlich recht. Es ist ein Skandal, wie die deutsche und die europäische Politik agiert.
Wenn man bedenkt, wie weit unsere Regierung im Hinblick auf das russische Handeln zu Recht geht, ist es nicht akzeptierbar, wie sie sich gegenüber dem Iran verhält.
Ihnen und ihrer Familie wünsche ich alles Gute und viel Kraft in dieser schwierigen Situation.