piwik no script img

„Terror-Propaganda“-Urteil in der TürkeiHaftstrafe für Ärztepräsidentin

Ärztepräsidentin Fincancı hatte eine Untersuchung eines mutmaßlichen C-Waffen-Einsatzes der türkischen Armee gefordert. Ein Gericht verurteilte sie deswegen.

Soli-Demonstration für Şebnem Korur Fincancı am Mittwoch in Istanbul Foto: Francisco Seco/ap
Inhaltsverzeichnis

Istanbul afp | Ein Gericht in der Türkei hat die international hoch angesehene Medizinerin Şebnem Korur Fincancı am Mittwoch zu einer Haftstrafe verurteilt, im Anschluss aber ihre Freilassung angeordnet. Das Istanbuler Gericht befand die 63-jährige Vorsitzende des türkischen Ärzteverbandes des Verbreitens „terroristischer Propaganda“ für schuldig und verurteilte sie zu zwei Jahren und acht Monaten Gefängnis. Haftstrafen von weniger als vier Jahren werden in der Türkei selten vollstreckt, die Verurteilten werden lediglich unter gerichtliche Aufsicht gestellt.

Fincancı saß seit dem 27. Oktober in Untersuchungshaft. Die Rechtsmedizinerin hatte in einem Fernsehinterview die Untersuchung eines mutmaßlichen Einsatzes chemischer Waffen durch die türkische Armee gegen kurdische Kämpfer gefordert.

Prokurdische Medien und Oppositionsvertreter hatten die türkische Armee beschuldigt, chemische Waffen gegen die Kämpfer der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) eingesetzt zu haben. Die PKK gab an, dass bei einem solchen Angriff 17 ihrer Kämpfer in den Bergen des Nordiraks getötet worden seien.

Der türkische Verteidigungsminister nannte die Anschuldigungen „Verleumdung“. Staatschef Recep Tayyip Erdoğan warf der Ärztin vor, „die Sprache des Terrorismus“ zu sprechen. Das Justizverfahren gegen die Vorsitzende des Ärzteverbands wurde international als politisch motiviert angeprangert.

Die Höchststrafe für „terroristische Propaganda“ liegt in der Türkei bei siebeneinhalb Jahren Gefängnis. Das Urteil kann daher als Rückschlag für die türkische Staatsanwaltschaft gesehen werden. In der Türkei sitzen tausende politische Regierungsgegner, darunter viele Kurden, hinter Gittern.

Lob aus Berlin

Die PKK kämpft seit Mitte der 80er Jahre für mehr Rechte für die Kurden in der Türkei und gegen den türkischen Staat. Sie wurde in der Vergangenheit immer wieder für Anschläge in der Türkei verantwortlich gemacht. Sie wird von der Regierung in Ankara sowie den meisten westlichen Staaten, darunter die USA und die EU, als Terrororganisation eingestuft.

Der Prozess gegen Fincancı fand unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt. Sowohl im Gerichtsgebäude als auch davor gab es eine starke Polizeipräsenz. Vor der Absperrung am Gericht versammelten sich am Mittwoch Unterstützer Fincancıs, die für ihre Freilassung demonstrierten. Die Medizinerin sagte in ihrem Schlusswort vor Gericht, dass sie keinen fairen Prozess erwarte.

Wegen Fincancıs Zusammenarbeit mit Rechtsmedizinern der UN an Orten wie Bosnien bekam der Prozess gegen sie viel internationale Aufmerksamkeit. Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Luise Amtsberg, nannte Fincancı „eine der mutigsten Stimmen der Türkei“.

Die irische Menschenrechtsorganisation Front Line Defenders verurteilte die Entscheidung in „diesem politisch motivierten Prozess“ als „ungerecht“. Das Urteil müsse in der Berufung gekippt werden, hieß es. Es sei „gut, dass Fincancı aus ihrer Untersuchungshaft entlassen wurde, doch sie darf keine Zeit mehr hinter Gittern verbringen“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!