Teilnehmer der „Hygiene“-Demos: Mit Zollstock und Grundgesetz
Wer läuft bei den den sogenannten „Hygiene“-Demos mit? Im Fahrradladen von Mirko B. hängt das Grundgesetz – er leiste „demokratischen Widerstand“.
Um den Hals trägt Mirko B., 50, ein rotes Bandana-Tuch mit schwarzer Musterung, das er sich über Nase und Mund zieht, sobald Kund*innen den Laden betreten. Vor acht Jahren hat er sich mit einem Fahrradgeschäft in Berlin-Mitte selbstständig gemacht. B. hält sich an die Verordnungen, witzelt über die Maskenpflicht, aber er boykottiert sie nicht. In seinem Schaufenster hängen das Grundgesetz und die Zeitung der Seuchenschutzkritiker, „Demokratischer Widerstand“ – für B. stiller Protest und ein Gesprächsangebot.
B. ist in Dessau geboren, aber in Ost-Berlin aufgewachsen. In seiner Jugend erlebte er mit, wie es sich anfühlt, in eingeschränkter Freiheit zu leben. „Das will man nicht ein zweites Mal“, sagt er und poliert weiter aufmerksam Speichen. Durch seine Ostsozialisierung hat er auch gelernt, wie viel Macht beim Volk liegen kann.
B.s Laden ist klein und alles hat hier seine Ordnung. Draußen hat er Blumen angepflanzt. Drinnen reihen sich Räder aneinander, gegenüber dem Eingang hängen Fahrradschlösser, darunter stehen kleine Fläschchen mit Kettenöl. Zwei hat er heute morgen schon verkauft. „Läuft wie geschmiert“, sagt er und lacht dabei.
Im Gespräch kommt er immer wieder darauf zurück, wie wichtig es ihm sei, Kritik zu üben, aber gleichzeitig friedlich, demokratisch und freundlich zu bleiben. Seine Kritik an der Regierung und den Beschränkungen des öffentlichen Lebens ist zugleich massiv: Verschwendung von Steuergeldern, heruntergewirtschaftete Krankenhäuser, nennt er als Beispiele. Nur bestimmte Firmen würden mit Geld überschüttet und manche Virologen gar nicht gehört.
Medien berichten alle „gleich“
„Früher wurde Wolfgang Wodarg als Experte eingestuft, heute gilt er als verrückt.“ Damals, das war 2009, als Wodarg in der Arte-Dokumentation „Profiteure der Angst“ zum globalen Umgang mit der Schweinegrippe auftrat. Die Regierung verteile außerdem Gelder an die falschen Stellen, kritisiert B.: „Lufthansa bekommt Milliarden, Krankenhäuser werden kaputtgespart.“
Mittlerweile informiert sich der Fahrradhändler fast ausschließlich im Netz: Die Medien berichten alle „gleich“, findet er. Dabei achte er auf valide Quellen, sagt er und führt „Wagenknechts Wochenschau“ vom 4. Mai als Beispiel an, in der die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht die Finanzierung der WHO sowie den Umgang mit Steuergeldern in der Pandemie kritisiert.
Vor einigen Wochen ist B. zum ersten Mal zu einer der „Hygiene“-Demonstrationen am Rosa-Luxemburg-Platz gegangen. Dort sieht er, wie eine ältere zierliche Frau mit grauen Locken von der Polizei festgehalten wird. Er beschließt, mit Grundgesetz und Zeitung in seinem Laden ein Zeichen gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit zu setzen. Schon beim zweiten Mal wird es B. zu voll am Rosa-Luxemburg-Platz.
Er verbringt seither seine Samstagnachmittage bei einer kleineren angemeldeten Versammlung in der Oderberger Straße in Mitte, die ein Freund organisiert hat, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Die freie Meinungsäußerung ist diesem besonders wichtig – auch bei Meinungsverschiedenheiten. „Als Demokrat musst du das gut finden“, sagt er. B. steht daneben und hält ein Tegernseer Bier in der Hand. Die Versammlung ist ebenso Kommunikationsraum wie Ersatz für die derzeit geschlossene Stammbar.
Corona-Kompass gegen „Demokratischer Widerstand“
Die Versammlung: zehn Personen und zwei Biertische. Darauf Grundgesetze, drei Zeitungsausgaben, Desinfektionsmittel und ein auf 1,5 Meter ausgezogener Zollstock. „Ich will später sagen können, dass ich mich für die Demokratie und das Grundgesetz eingesetzt habe“, sagt B., der sich politisch eher links verortet. „Wir wählen zusammen eine Regierung, deswegen müssen wir miteinander reden.“
Ein Straßenmagazin-Verkäufer läuft an den Biertischen vorbei. Er verkauft die Obdachlosenzeitung Karuna-Kompass, die diesen Monat mit „Corona-Kompass“ titelt. Der „Corona-Kompass“ und die Zeitung des „Demokratischen Widerstands“ – unterschiedliche Meinungen auf engstem Raum. Der Verkäufer fragt, ob jemand eine Zeitung kaufen will und B. greift in die Tasche. Er will keine Zeitung, aber reicht dem wohnungslosen Mann ein paar Münzen. „Das Menschliche geht immer vor“, sagt B.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen