Tausende Euro Nachzahlung: Heizung auf eins, Konto im Dispo
1,5 Millionen Euro sollen Göttinger Mieter*innen an Heizkosten nachzahlen. Der Wärmeversorger ist das überwiegend kommunale Unternehmen Enercity.
„Ein riesiger Schock“ sei das gewesen als er und die anderen Mieter*innen die Rechnungen in ihren Briefkästen gefunden hätten, sagt Steffen Zimmermann. Das war schon im Dezember, kurz vor Weihnachten. Zimmermann selbst sollte nur 270 Euro bezahlen, aber auch er zahlte nicht. „Wir haben nur ein Druckmittel, wenn wir kollektiv handeln“, sagt der Mieter und Stadtteilaktivist. 600 Einwohner*innen haben sich seitdem zusammengeschlossen und wehren sich gegen den Immobilienkonzern.
Der Energieversorger ist Enercity, eine 75-prozentige Tochter der Stadt Hannover. Wie es zu diesen Mondpreisen kommt? Das Unternehmen verweist auf den früheren Vermieter: „Die Wohnungsgesellschaft hat seinerzeit beim Abschluss des Vertrages mit uns hinsichtlich des Bezugs von Wärme ausdrücklich ein Produkt gewünscht, was sich an den Börsenpreisen für Gas orientiert hat“, teilt Enercity schriftlich mit. Über „Chancen als auch Risiken dieses branchenüblichen Produktes“ sei die Wohnungsgesellschaft umfassend informiert gewesen. Inzwischen habe es einen Eigentümerwechsel gegeben.
Der Vertrag sei vor der Energiekrise sehr attraktiv gewesen, weil der Börsenpreis für Gas günstig war. Ob die Wohnungsgesellschaften diese Vorteile an Mieter:innen weitergegeben hätten, „können wir leider nicht beantworten“, heißt es von Enercity. Im Zuge des Russland-Kriegs gegen die Ukraine seien die Gaspreise dann sehr stark gestiegen.
Mieter Zimmermann sieht noch einen Fehler: „Das Problem sind die Contracting-Verträge“, sagt er. Beim sogenannten Contracting gibt ein Wohnungsunternehmen die Zuständigkeit für das Bereitstellen von Heizanlagen und Wärme an ein anderes Unternehmen weiter – in diesem Fall Enercity. Enercity berechnet also nicht nur den Preis für das Gas, sondern lässt auch die Bereitstellung und Wartung der Anlagen einfließen. Hinzu kämen weitere, oft intransparente Faktoren.
„Es ist ein Skandal, dass ein kommunales Unternehmen einer anderen Stadt sich an der Not der Göttinger Mieter*innen bedienen will“, sagt der Göttinger Karlheinz Paskuda, Mitglied im Landesvorstand der Linkspartei. „Wer solche Verträge erlaubt, öffnet der Willkür Tür und Tor.“ Schließlich wisse niemand, ob Enercity den teuren Börsenpreis für den Strom überhaupt bezahlt habe, oder sich schamlos bereichere.
Enercity-Sprecher Carlo Kallen betont jedoch, es handele sich gar nicht um Forderungen von Enercity an die Mieter:innen. Sein Unternehmen habe eine Geschäftsbeziehung ausschließlich mit der Wohnungsgesellschaft. Diese übernehme selbst die Abrechnung mit den Mieter:innen.
Energiekonzern hat fette Gewinne gemacht
Im Krisenjahr 2022 hat der Konzern nach eigenen Angaben ein Rekordgeschäft erzielt und 218,5 Millionen Euro Gewinn erwirtschaftet – ein Plus von 3,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der Landesvorstand der Linkspartei fordert von Enercity, die Forderungen fallen zu lassen. Sie seien „höchst unmoralisch und absolut unvertretbar“, sagt die Landesvorsitzende Franziska Junker.
LEG Immobilien selbst könne jedoch gar nichts für den Contracting-Vertrag, sagt die Unternehmenssprecherin Veronika Böhm. Man habe den Vertrag vom Vorbesitzer der Immobilie, der Adler Group, übernommen. „Es gab für uns keine Möglichkeit, den Vertrag vorzeitig zu kündigen“, so Böhm.
Die Adler Group ist ein undurchsichtiges und hoch verschuldetes Firmengeflecht, gegen das wegen des Verdachts auf Bilanzfälschung, Marktmanipulation und Betrugs ermittelt wird. Doch Contracting-Verträge mit Energieunternehmen sind auf dem Wohnungsmarkt nicht unüblich. Erst Ende Mai wurde bekannt, dass sechs landeseigene Wohnungsgeber in Berlin ebenfalls Contracting-Vereinbarungen mit verschiedenen Energieunternehmen betreiben. Auch dort wehren sich die Mieter*innen.
In Göttingen sind Steffen Zimmermann und die anderen Bewohner*innen der LEG-Häuser fest entschlossen, keinen Cent von den übertriebenen Forderungen zu bezahlen. Sie haben sich zu einer Prüfgemeinschaft zusammengeschlossen, die Widerspruch eingelegt und sämtliche Kostenbelege von dem Energieunternehmen angefordert hat.
Auch die Mieten wurden erhöht
Der Energieversorger teilt der taz mit, er haben „schon vor Wochen“ in einem Gespräch mit der Stadt Göttingen Bereitschaft signalisiert, im Rahmen einer Zuwendung an den Härtefonds der Stadt Göttingen soziale Härten für Mieter:innen in Grone abzufedern. Außerdem hat das Unternehmen einen eigenen Härtefonds, der allerdings bisher nur in Hannover greift. Enercity sei dabei, ihn „so zu erweitern, dass er auch soziale Härten von Mieter:innen beispielsweise in Göttingen abfedern kann, wenn die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen“, teilt Kallen mit.
Unter den Zahlungspflichtigen des finanzschwachen Stadtteils Grone sind viele Empfänger*innen von Bürgergeld oder anderen Transferleistungen. Ihre Wärmerechnungen zahlt das Jobcenter. Im Rahmen der Nebenkostenvorauszahlungen habe LEG zudem die Mieten drastisch erhöht, zum Teil von 620 auf 920 Euro monatlich, sagt Steffen Zimmermann. „Für viele ist das existenzbedrohend.“
Immerhin: Die Vermieterin LEG hat den Vertrag mit Enercity Contracting nicht verlängert, sodass er Ende 2022 ausgelaufen ist. Den neuen Vertrag schloss LEG mit seiner eigenen Tochtergesellschaft „Energie Service Plus GmbH“. Es ist auch wieder ein Contracting-Vertrag.
Transparenzhinweis: Wir haben den Text um die Stellungnahme des Energieversorgers Enercity ergänzt und im Zuge dessen korrigiert, dass nicht dieser die Forderungen an die Mieter:innen stellt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin