Tarifstreit im öffentlichen Dienst: Chance auf innovativen Tarifvertrag?
Am Wochenende ringen Verdi und Beamtenbund mit Bund und Kommunen um einen neuen Tarifvertrag. Die politischen Umstände könnten sich als günstig erweisen.
Betroffen sind rund 2,6 Millionen Beschäftigte in den Bereichen der öffentlichen Verwaltung sowie kommunaler Unternehmen, beispielsweise beim ÖPNV, der Müllabfuhr, den kommunalen Krankenhäusern und Kitas, bei Theatern und Flughäfen. Die aktuelle Tarifrunde steht unter dem Eindruck der letzten Tarifrunde 2023, die für die Beschäftigten recht gut abgeschlossen wurde und von breiten Mobilisierungen getragen war. Zurückgeführt wurde dies auch auf die Inflation, die sich stark im Geldbeutel der Arbeitnehmer bemerkbar machte. Zum ersten Mal seit Gründung im Jahr 2001 verzeichnete Verdi damals ein Mitgliederplus.
Die diesmaligen Forderungen der Arbeitnehmervertreter für den angestrebten Tarifvertrag mit 12-monatiger Laufzeit sind ambitioniert und komplex: Im Mittelpunkt stehen 8 Prozent mehr Lohn im Volumen, mindestens aber 350 Euro mehr, verschiedene Zuschläge für belastende Tätigkeiten, drei zusätzliche freie Tage plus einen weiteren für Gewerkschaftsmitglieder sowie ein „Meine-Zeit-Konto“, auf das Lohnerhöhungen eingezahlt und in mehr Freizeit umgewandelt werden können.
Gerade die Verknüpfung von Entgeltforderungen mit Vorschlägen zur Verkürzung der Arbeitszeit beziehungsweise mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten gilt als zukunftsträchtig. Zur demokratischen Erarbeitung dieser Forderung hatte Verdi bereits im vergangenen Frühsommer einen langen Befragungsprozess begonnen – circa 150.000 von Beschäftigten ausgefüllte Fragebögen wurden dabei ausgewertet.
Finanzielle Verluste
Wie viele Bestandteile der Forderungen durchgesetzt werden können wird sich in den nun anstehenden Verhandlungen zeigen, offen ist, ob Arbeitszeitverkürzungsaspekte zugunsten der Entgeltforderungen geopfert werden. Die derzeit stattfindenden Streiks an zentralen Schmerzstellen wie Flughäfen, bei denen die Arbeitgeber im Gegensatz zu Streiks in der Kita auch finanzielle Verluste erleiden, haben im Vorfeld die Verhandlungsposition der Arbeitnehmervertreter stärken sollen.
Von den betroffenen rund 2,6 Millionen Beschäftigten sind nur 154.000 beim Bund, der Rest bei den kommunalen Arbeitgebern angestellt. Eine entscheidende Rolle kommt also der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) unter Verhandlungsführung ihrer Präsidentin Karin Welge zu. Am Dienstag kritisierte Welge, die Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen ist, die Streiks in der WAZ als der Bevölkerung nicht vermittelbar und die Gewerkschaftsforderungen als nicht finanzierbar. Für den Bund ist kommissarisch immer noch Innenministerin Nancy Faeser Verhandlungsführerin, eine SPD-Parteifreundin von Welge.
„Letztlich ist es der Bund, der den Kommunen bestimmte Aufgaben aufbürdet, ihnen aber die erforderlichen Mittel dafür häufig verwehrt und sie dadurch in ihren personalpolitischen Handlungsmöglichkeiten einschränkt“, argumentiert ein Sprecher von Verdi für mehr Investitionen. In den letzten beiden Wochen wurde das Dogma der Schuldenbremse selbst von den Unionsparteien aufgeweicht. Die parallel zu den Tarifverhandlungen stattfindenden Koalitionsgespräche und die von CDU/CSU und SPD diskutierten Investitionsmilliarden in Infrastruktur eröffnen vor diesem Hintergrund für die Forderungen von Verdi und Beamtenbund ein politisches Möglichkeitsfenster.
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