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Taliban übernehmen AfghanistanDie letzten Tage von Kabul

Auf die Machtübernahme der Taliban folgen Chaos und Angst: Plünderungen, Selbstzensur, Angriffe auf Frauen.

Die neuen Machthaber, die Taliban, präsentieren sich am Sonntag im Palast des Präsidenten Foto: Zabi Karimi/ap

Berlin taz | Die geordnete Macht­übergabe an die Taliban ist gescheitert. Der Plan der USA und der Regierung in Kabul, eine Übergangsregierung unter ihrem Einschluss zu bilden, brach zusammen, bevor er zu Ende diskutiert werden konnte. Auch eine zweiwöchige Feuerpause, um die Übergabe geordnet zu managen, kam nicht zustande. Stattdessen übernahmen die Taliban ungehindert die alleinige Macht. Bereits am Abend saß der Chef ihrer Militärkommission, also der Quasiverteidigungsminister, Kari Salahuddin, im Kabuler Präsidentenpalast.

Am Montag erklärten sie den Krieg für beendet, da sie nun das gesamte Land kontrollierten. Das stimmt nicht ganz. Die kleine Provinz Pandschir nördlich von Kabul, als Anti-Taliban-Hochburg bekannt, ist wohl noch nicht besetzt.

Talibansprecher Muhammad Naim teilte gestern mit, die Bewegung würde mit der Regierungsbildung beginnen. Man wolle „kein isoliertes Land“ regieren – ein Gesprächsangebot an die Weltgemeinschaft. Talibanvizechef Mullah Baradar sprach von einer „offenen, inklusiven islamischen Regierung“, ein Zeichen, dass auch Nichttaliban einbezogen werden sollen. Das könnte auch die Erklärung dafür sein, dass die erwartete Ausrufung eines islamischen Emirats noch nicht erfolgte.

Der Machtübernahme der Taliban leistete Vorschub, dass der bisherige Präsident Aschraf Ghani am Sonntagnachmittag das Land verlassen hatte. Unklar blieb, ob das eine Vorbedingung der Taliban für eine Übergangslösung war oder der USA, die ihn schon lang nicht mehr unterstützten, oder eine überstürzte Flucht. Mit seinen zwei engsten Vertrauten – dem nationalen Sicherheitsberater, Hamdullah Moheb, und seinem engsten Mitarbeiter, Fasl Fasli, ließ er sich zunächst nach Tadschikistan fliegen und von dort aus nach unbestätigten Berichten nach Oman. Ghani besitzt die US-Staatsbürgerschaft, Moheb ist afghanisch-britischer und Fasli afghanisch-schwedischer Staatsbürger.

Warlords und Regierungsmitglieder flüchten ins Ausland

Aus den sozialen Medien schlagen Ghani nun Anschuldigungen entgegen, er sei mit großen Geldbeträgen ausgereist. Dazu kommen Wut über sein Scheitern nach Jahren großsprecherischer Pläne und Häme. Noch kürzlich hatte Ghani erklärt, er würde lieber im Amt sterben als fliehen.

Nach Ghanis Flucht entstand ein Dreierrat, der für sich in Anspruch nahm, mit den Taliban weiter über deren Machtübernahme zu verhandeln – offenbar auch in der Hoffnung, dabei selbst weiter eine politische Rolle spielen zu können. Dazu gehören der frühere Präsident Hamid Karsai, der berüchtigte Mudschaheddinführer Gulbuddin Hekmatjar und Ghanis interner Hauptrivale Abdullah, zuletzt Vorsitzender des für Verhandlungen mit den Taliban zuständigen Rats für Nationale Versöhnung. Die Taliban haben bisher kein Zeichen ausgesandt, dass sie diesen Rat ernst nehmen. Währenddessen haben sich führende Warlords und Regierungsmitglieder ins Ausland gerettet.

Keine Kämpfe in Kabul

Nach Ghanis Abreise lösten sich die letzten Regierungsstrukturen auf. Darunter war die Polizei, die bis zum Abend aus dem Stadtbild Kabuls verschwand. Daraufhin kam es zu ersten Plünderungen und Überfällen auf Passanten. Viele Teile Kabuls wurden über das vergangene Jahr zunehmend von kriminellen Netzwerken geplagt, die teilweise von hohen Politikern protegiert wurden. Sie versorgten sich offenbar mit Waffen der sich auflösenden Polizei, oder Polizisten schlossen sich ihnen an. Das nahmen die Taliban zum Anlass, entgegen früheren Zusagen nach Kabul einzurücken. Bereits am Sonntagabend hatten sie alle Polizeikommandanturen in Kabul übernommen, einen ehemaligen Parlamentsabgeordneten als Polizeichef und einen Gouverneur aus den eigenen Reihen eingesetzt. Ab 21 Uhr galt eine nächtliche Ausgangssperre.

Gekämpft wurde in Kabul nicht, wie das Internationale Rote Kreuz gestern bestätigte. Kontakte der taz in Kabul berichteten aus den Stadtteilen Kart-i-Nau im Südosten und Chuschhal Mena im Wesen, dass einige Geschäfte wie Bäckereien geöffnet, aber Banken noch geschlossen seien, die aber wieder Geld von der Zentralbank erhalten sollen. Autos würden zwar kontrolliert, aber nicht durchsucht. Dies gelte auch für weibliches Personal. Es wurde auch berichtet, Taliban suchten nach gepanzerten Fahrzeugen und solchen von Armee und Polizei, offenbar um sie zu beschlagnahmen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich vereinzelt um Kriminelle handelt, die sich als Taliban ausgeben und die Angst der Bevölkerung ausnutzen.

Angst vor den Taliban

Internet- und Stromversorgung liefen normal, damit auch weiter unabhängige afghanische Onlinemedien. Der unabhängige Sender Tolo in Kabul sei nach Waffen durchsucht worden; die Taliban hätten sie eingezogen, aber zugesichert, den Sender zu schützen. Das berichtete Tolo über Twitter. Einige TV- und Radiosender hätten ihr Programm „gemäßigt“ und „islamisiert“, hieß es in sozialen Medien.

Eine Talibandelegation suchte den Gesundheitsminister Wahid Madschruh auf und ersuchte ihn, „wie bisher“ weiterzuarbeiten. In Kundus sollen Behördenmitarbeiterinnen von der Arbeit nach Hause geschickt worden sein, in Kabul Studentinnen. Es könne aber auch vorauseilender Gehorsam der Universitätsverwaltung sein. Ebenfalls auf sozialen Medien hieß es, die Furcht vor den Taliban „vergifte“ bereits den öffentlichen Raum. Frauen und Mädchen würden von Passanten beschimpft, dass die Taliban „wegen euch“ gekommen seien und sie jetzt „disziplinieren“ würden.

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